L 9 SO 420/12 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 30 SO 375/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 420/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Für die Annahme eines normativen Zuflusses einer fiktiven Einnahme aus einem nicht realisierten Anspruch fehlt es an einer Rechtsgrundlage im SGB XII.
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt S aus C beigeordnet. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18.10.2012 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verurteilt, der Antragstellerin ab dem 01.09.2012 bis zur Entscheidung des Sozialgerichts in der Hauptsache, längstens bis zum 30.06.2013, vorläufig Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch zu zahlen, und zwar bis zum 31.12.2012 in Höhe von monatlich 482,97 Euro und ab dem 01.01.2013 in Höhe von monatlich 491,16 Euro. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen.

Gründe:

I. Der Antragstellerin ist für die am 02.11.2012 eingegangene Beschwerde gegen den am 26.10.2012 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts (SG) Düsseldorf vom 18.10.2012 nach Maßgabe von § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. §§ 114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) Prozesskostenhilfe zu bewilligen und gemäß § 121 Abs. 2 ZPO ihr Prozessbevollmächtigter als Rechtsanwalt beizuordnen. Die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen bei der Antragstellerin, die aktuell nur über Einkommen in Gestalt der Witwenrente der Deutschen Rentenversicherung Rheinland in Höhe von monatlich 346,83 Euro verfügt, vor. Die Rechtsverfolgung im Beschwerdeverfahren hat auch hinreichende Aussicht auf Erfolg, wie sich aus den folgenden Ausführungen ergibt. Die Anwaltsbeiordnung ist wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage im Sinne von § 121 Abs. 2 ZPO erforderlich.

II. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das SG hat den sinngemäßen Antrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verurteilen, ihr ab dem 01.09.2012 Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII) in gesetzlicher Höhe zu zahlen, zu Unrecht abgelehnt, denn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und - entgegen der Auffassung des SG - auch begründet.

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.

a) Der gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG vorrangige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist allein ebenso wenig statthaft wie ein Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung in analoger Anwendung von § 86b Abs. 1 SGG, denn die Antragstellerin begehrt die Gewährung bislang noch nicht bewilligter Leistungen und damit eine Erweiterung ihres Rechtskreises, die sie allein mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG erreichen kann. Der Rechtsbehelf nach § 86b Abs. 1 SGG könnte ihrem Begehren demgegenüber von vornherein nicht vollständig Rechnung tragen.

Es bedarf im Hinblick auf den Versagungs- und Entziehungsbescheid vom 12.04.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.07.2012 auch nicht eines zusätzlichen Antrags nach § 86b Abs. 1 SGG (vgl. insoweit Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 86b Rn. 29b m.w.N.). Der Klage vom 20.08.2012 gegen diese Bescheide kommt von sich aus gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung zu, da kein Fall des § 86a Abs. 2 SGG vorliegt. Eine Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 20.08.2012 in analoger Anwendung von § 86b Abs. 1 SGG in Ergänzung zum Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. hierzu LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 08.04.2010 - L 7 AS 304/10 ER-B -, juris Rn. 4 m.w.N.) ist ebenfalls nicht notwendig. Die Antragsgegnerin hat die aufschiebende Wirkung beachtet, indem sie trotz des Bescheids vom 12.04.2012 die ursprünglich mit Bescheid vom 21.09.2011 bewilligten Leistungen bis zum Ablauf des Bewilligungszeitraums am 31.08.2012 weiterhin an die Antragstellerin ausgezahlt hat. Sie ist darüber hinaus ausweislich ihres Schriftsatzes vom 21.11.2012 der Auffassung, dass der Versagungs- und Entziehungsbescheid vom 12.04.2012 lediglich Gültigkeit bis zum 31.08.2012 besaß. Hieraus kann gefolgert werden, dass die Antragsgegnerin auch ohne gerichtliche Feststellung der aufschiebenden Wirkung zutreffend erkannt hat, dass sie aus dem Bescheid vom 12.04.2012 für die Zeit ab dem 01.09.2012 keine nachteiligen Folgerungen für Antragstellerin ziehen darf.

b) Das Rechtsschutzbedürfnis für den vorliegenden Antrag besteht unabhängig davon, dass die Antragsgegnerin nach eigenem Vortrag für den allein streitgegenständlichen Zeitraum ab September 2012 noch keinen Bescheid erlassen hat. Die Antragsgenerin hat durch Erlass des Bescheids vom 12.04.2012 und durch ihre ablehnende Haltung im vorliegenden Verfahren sowie im Klageverfahren gegen den Bescheid vom 12.04.2012 deutlich zu erkennen gegeben, dass sie einen förmlichen Fortzahlungsantrag, der im Übrigen materiell-rechtlich nicht erforderlich ist (vgl. BSG, Urt. v. 29.09.2009 - B 8 SO 13/08 R -, juris Rn. 11 ff.), ablehnen oder einen erneuten Versagungsbescheid erlassen würde. Bei dieser Sachlage kann die Antragstellerin nicht darauf verwiesen werden, sich vor Stellung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung an die Antragsgegnerin zu wenden.

2. Der Antrag ist auch begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, die das SG als solche zutreffend dargelegt hat, so dass insoweit auf dessen Ausführungen Bezug genommen wird (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG), liegen vor. Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch (dazu a)) als auch einen Anordnungsgrund (dazu b)) glaubhaft gemacht (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

a) Es ist nach gegenwärtigem Sachstand überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, d.h. nach § 19 Abs. 2 i.V.m. §§ 41 ff. SGB XII, in der tenorierten Höhe hat.

aa) Nach § 19 Abs. 2 SGB XII ist Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel dieses Buches Personen zu leisten, die die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII erreicht haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gehen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel vor. Nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist Älteren und dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach den §§ 82 bis 84 und 90 bestreiten können, auf Antrag Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu leisten. Leistungsberechtigt wegen Alters nach § 41 Abs. 1 SGB XII ist, wer die Altersgrenze erreicht hat. Personen, die vor dem 1. Januar 1947 geboren sind, erreichen die Altersgrenze mit Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 41 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB XII). Den Umfang der Leistungen und damit auch das Maß des notwendigen Lebensunterhalts, auf dessen Deckung durch eigene Mittel und Kräfte es ankommt, bestimmt § 42 SGB XII. Danach umfassen die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

1. die sich für die leistungsberechtigte Person nach der Anlage zu § 28 ergebende Regelbedarfsstufe,
2. die zusätzlichen Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels (§§ 30 bis 33 SGB XII),
3. die Bedarfe für Bildung und Teilhabe nach dem Dritten Abschnitt des Dritten Kapitels, ausgenommen die Bedarfe nach § 34 Absatz 7 SGB XII, 4. die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Vierten Abschnitt des Dritten Kapitels (§§ 35 bis 36 SGB XII); bei Leistungen in einer stationären Einrichtung sind als Kosten für Unterkunft und Heizung Beträge in Höhe der durchschnittlichen angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für die Warmmiete eines Einpersonenhaushaltes im Bereich des nach § 98 SGB XII zuständigen Trägers der Sozialhilfe zugrunde zu legen, 5. ergänzende Darlehen nach § 37 Abs. 1 SGB XII.

Es ist nach gegenwärtigem Sachstand überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin nach diesen Vorschriften Anspruch auf Leistungen in Höhe von 482,97 Euro monatlich ab dem 01.09.2012 und in Höhe von 491,16 Euro monatlich ab dem 01.01.2013 hat.

(1) Die im Jahre 1936 geborene Antragstellerin gehört zum leistungsberechtigten Personenkreis des § 41 Abs. 2 SGB XII, da sie die Altersgrenze von 65 Jahren überschritten hat.

(2) Der Bedarf der alleinstehenden Antragstellerin beträgt bis zum 31.12.2012 829,80 Euro monatlich und ab dem 01.01.2013 837,99 Euro. Er setzt sich zusammen aus dem Regelbedarf der Regelbedarfsstufe 1 gemäß der Anlage zu § 28 SGB XII in Höhe von 374,- Euro monatlich bis zum 31.12.2012 und in Höhe von 382,- Euro monatlich ab dem 01.01.2013 (§ 42 Nr. 1 SGB XII), einem Mehrbedarf für die dezentrale Warmwasserbereitung gemäß § 42 Nr. 2 i.V.m. § 30 Abs. 7 Satz 2 Nr. 1 SGB XII in Höhe von 8,60 Euro monatlich bis zum 31.12.2012 (2,3% von 374 Euro) und in Höhe von 8,79 Euro ab dem 01.01.2013 (2,3% von 382 Euro) und dem Bedarf für Unterkunft und Heizung in Höhe der dem Vermieter geschuldeten Bruttowarmmiete von 447,20 Euro monatlich gemäß § 42 Nr. 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGB XII zusammen. Anhaltspunkte dafür, dass die zuletzt genannten Kosten unangemessen sind (vgl. § 35 Abs. 2 und 4 SGB XII) bestehen gegenwärtig nicht. Weitere Bedarfe sind ebenfalls nicht ersichtlich. Insbesondere kommen Leistungen nach § 42 Nr. 2 i.V.m. § 32 SGB XII nicht in Betracht, da die Klägerin über den Bezug der Witwenrenten gesetzlich kranken- und pflegeversichert ist.

(3) Diesem Bedarf steht ein nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zu berücksichtigendes Einkommen in Gestalt der Witwenrente der Deutschen Rentenversicherung Rheinland in Höhe von 346,83 Euro gegenüber. Die Rente ist auch in voller Höhe als Einkommen anzurechnen; für Absetzbeträge nach § 82 Abs. 2 und 3 SGB XII sind nach gegenwärtigem Sachstand keine Anhaltspunkte ersichtlich.

(4) Über weiteres Einkommen sowie über nach Maßgabe von § 90 SGB XII einzusetzendes Vermögen verfügt die Antragstellerin nach gegenwärtig bekanntem Sachverhalt nicht. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf Rente gegen den als russischen Rentenversicherungsträger zuständigen Rentenfonds der Russischen Föderation hat und dass ihr im Falle der Zahlung dieser Rente nach Maßgabe von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, Satz 3 Nr. 2 Wohngeldgesetz (WoGG) auch ein Anspruch auf Wohngeld zustünde. Ob und in welcher Höhe diese Ansprüche bestehen, kann jedoch dahinstehen, denn weder der mögliche Anspruch auf die russische Rente noch der mögliche Anspruch auf Wohngeld stellen Einkommen im Sinne von § 82 Abs. 1 SGB XII oder einzusetzendes Vermögen im Sinne von § 90 SGB XII dar.

Einkommen im Sinne von § 82 Abs. 1 SGB XII ist alles, was jemand in dem Bedarfszeitraum wertmäßig dazu erhält, während Vermögen im Sinne von § 90 Abs. 1 SGB XII das ist, was er in der Bedarfszeit bereits hat. Für die Frage, wann etwas zufließt, ist grundsätzlich vom tatsächlichen Zufluss auszugehen, soweit nicht normativ ein anderer Zufluss als maßgeblich bestimmt wird (modifizierte Zuflusstheorie; zum Ganzen BSG, Urt. v. 19.05.2009 - B 8 SO 35/07 R -, juris Rn. 14 m.w.N. zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zum Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sowie zur Rechtsprechung der für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II zuständigen Senate des BSG).

Nicht realisierte Ansprüche stellen danach schon deshalb kein Einkommen im Sinne von § 82 Abs. 1 SGB XII dar, weil dem Anspruchsinhaber kein Geld oder Geldwert tatsächlich zufließt und ihm deshalb keine bereiten Mittel zur Bedarfsdeckung zur Verfügung stehen (vgl. insoweit auch BSG, Urt. v. 21.06.2011 - B 4 AS 21/10 R -, juris Rn. 29; Urt. v. 25.01.2012 - B 14 AS 101/11 R -, juris Rn. 22). Für die Annahme eines normativen Zuflusses einer fiktiven Einnahme aus einem nicht realisierten Anspruch fehlt es an einer Rechtsgrundlage im SGB XII.

Nicht realisierte Ansprüche auf laufende Geldleistungen, wie sie hier im Raum stehen, sind auch nicht als einzusetzendes Vermögen im Sinne von § 90 SGB XII zu bewerten (so auch Mecke, in: jurisPK-SGB XII, § 90 Rn. 24). Dies folgt schon daraus, dass bei solchen Ansprüchen der wertmäßige Zuwachs erst mit dem tatsächlichen Geldzufluss, nicht aber schon mit dem bloßen Entstehen oder der Fälligkeit des Anspruchs eintritt. Erst bei Zufluss der Geldleistung ist diese als Einkommen zu berücksichtigen, was die Annahme des Bestehens von Vermögen vor dem Zufluss ausschließt (in diesem Sinne BSG, Urt. v. 13.05.2009 - B 4 AS 49/08 R -, juris Rn. 12; für einen Schenkungsrückforderungsanspruch offen gelassen BSG Urt. v. 02.02.2010 - B 8 SO 21/08 R -, juris Rn. 13).

(5) Dem Anspruch der Antragstellerin steht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch der in § 2 Abs. 1 SGB XII geregelte Nachrang der Sozialhilfe nicht entgegen.

Das BVerwG hat zwar gestützt auf die entsprechende Regelung des § 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) die Auffassung vertreten, dass Sozialhilfe abzulehnen ist, wenn der Hilfesuchende nicht vorab andere vorhandene Hilfsmöglichkeiten zu verwirklichen versucht, und einen Anspruch auf Sozialhilfe mangels Hilfebedürftigkeit verneint, wenn der Hilfesuchende Inhaber eines realisierbaren Anspruchs ist, der alsbald, d.h. rechtzeitig zur Deckung des Bedarfs, durchgesetzt werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.09.1971 - V C 2.71 -, juris Rn. 10; Urt. v. 05.05.1983 - 5 C 112.81 -, juris Rn. 11 f., dort allerdings unter dem Gesichtspunkt der Einkommensberücksichtigung; siehe dazu aber bereits oben (4)). Das BSG ist dieser Rechtsprechung jedoch nicht gefolgt. Es vertritt vielmehr in ständiger Rechtsprechung, der der Senat folgt, dass es sich bei § 2 Abs. 1 SGB XII nicht um eine isolierte Ausschlussnorm handelt, was sich aus der Systematik des SGB XII sowie auch aus dem Wortlaut der Norm, der nicht auf bestehende andere Leistungsansprüche, sondern auf den Erhalt anderer Leistungen abstelle, ergebe. Ein Leistungsausschluss ohne Rückgriff auf andere Normen des SGB XII sei mithin allenfalls in extremen Ausnahmefällen denkbar, etwa wenn sich der Bedürftige generell eigenen Bemühungen verschließe und Ansprüche ohne weiteres realisierbar seien (vgl. BSG, Urt. v. 26.08.2008 - B 8/9b SO 16/07 R -, juris Rn. 15; Urt. v. 29.09.2009 - B 8 SO 23/08 R -, juris Rn. 20; Urt. v. 02.02.2010 - B 8 SO 21/08 R -, juris Rn. 13; Urt. v. 22.03.2012 - B 8 SO 30/10 R -, juris Rn. 25; ausführlich dazu auch Coseriu, in: jurisPK-SGB XII, § 2 Rn. 8 ff.).

Nach diesen Grundsätzen ist die Antragsgenerin nicht berechtigt, die begehrten Grundsicherungsleistungen mit der Begründung abzulehnen, es stehe nicht fest, ob die Antragstellerin Anspruch auf eine Rente des Rentenfonds der Russischen Föderation habe, bei deren Zahlung eventuell in Verbindung mit der Gewährung von Wohngeld unter Umständen kein ungedeckter Bedarf mehr verbliebe. Unabhängig davon, ob der Antragstellerin vorgeworfen kann, sie verschließe sich generell eigenen Bemühungen, was der Senat im Hinblick auf die von der Antragstellerin oder ihrer Tochter unternommen Kontaktaufnahme mit dem Reisebüro Visum GmbH für zweifelhaft hält, fehlt es an einem ohne weiteres realisierbaren Anspruch.

Es ist bereits unklar, ob die Antragstellerin überhaupt Anspruch auf eine Rente nach dem Recht der Russischen Föderation hat. Die Antragsgegnerin, die im Übrigen jegliche Ermittlungen von Amts wegen insoweit unterlassen hat, hält dies offensichtlich selbst für zweifelhaft, denn sie hat von der Antragstellerin alternativ zum Nachweis der Beantragung der Rente eine "Negativbescheinigung", d.h. eine Bestätigung einer zuständigen Stelle, dass kein Rentenanspruch nach russischem Recht besteht, verlangt.

Selbst wenn man im Hinblick auf die von März 1991 bis einschließlich März 2000 erfolgte Zahlung der russischen Rente unterstellen würde, dass der Antragstellerin ein Anspruch gegen den Rentenfonds der Russischen Föderation dem Grunde nach zusteht, ist dieser nach gegenwärtig bekanntem Sachstand nicht ohne weiteres und alsbald zu realisieren, so dass im Übrigen auch nach der früher vom BVerwG vertretenen Auffassung der Nachranggrundsatz dem Leistungsanspruch nicht entgegenstünde. Für die Auszahlung der russischen Rente hat die Antragstellerin zahlreiche, nicht unkomplizierte Formalitäten (vgl. hierzu im Einzelnen auch die im Internet unter http://www.sirin-europa.de/index.php?option=com content&view=article&id=14&Itemid=16〈=deAltersrente abrufbaren Informationen) zu erledigen, die mit Sicherheit einige Zeit in Anspruch nehmen und die schnelle und komplikationslose Realisierbarkeit des Rentenanspruchs ausschließen oder zumindest zweifelhaft erscheinen lassen.

So hat die Antragstellerin nach dem übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten einen neuen russischen Reisepass zu beantragen, dessen Ausstellung unabhängig davon, ob sie sich für seine Beantragung an das russische Generalkonsulat in Bonn wenden muss oder die Dienstleistungen eines Reisebüros in E in Anspruch nehmen kann, unter Berücksichtigung der für die Ausstellung eines deutschen Reisepasses üblichen Bearbeitungszeiten sicherlich nicht innerhalb von wenigen Tagen zu erreichen sein wird.

Vor allem aber spricht nach gegenwärtigem Sachstand viel dafür, dass die Antragstellerin für die Beantragung der Rente entweder persönlich nach Russland reisen oder einen Bevollmächtigten in Russland, z.B. einen Anwalt, einschalten muss (vgl. hierzu auch Vogts/Shetynberg, Die Rentenversicherung 2010, Heft 3, veröffentlicht im Internet unter http://www.vogts-und-partner.de/voe/So-6-Die%20RV-Heft%203-2010-Auszug-Vogts-Shteynberg-Rentengesetze.pdf). Nach dem von der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren eingereichten und übersetzten Internetauftritt des russischen Generalkonsulats in Bonn ist dieses für die Beantragung einer Rente nicht zuständig. Nach der vom Senat eingeholten Auskunft des Reisebüros Visum vom 29.11.2012 kann die Rente auch nicht über ein Reisebüro beantragt werden. Diese Auskunft wird durch die Einlassungen der Antragsgegnerin weder widerlegt noch in ihrem Beweiswert erschüttert. Eine schriftliche, den Ausführungen des Reisebüros Visum widersprechende Auskunft des Reisebüros F in E liegt dem Senat nicht vor. Nach den Ausführungen der Antragstellerin in der Beschwerdeschrift hat das Reisebüro F die Antragstellerin vielmehr auf das Reisebüro Visum verwiesen. Soweit die Antragsgegnerin in ihrem letzten Schriftsatz vorträgt, auch die Firma B GmbH in E erbringe konsularische Dienstleistungen, die auch die Rentenbeantragung umfassten, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Die von der Antragsgegnerin beigefügt Rechnung der Firma B GmbH belegt den Vortrag der Antragsgegnerin gerade nicht. In Rechnung gestellt wird dort lediglich eine Lebensbescheinigung, die Voraussetzung dafür ist, dass eine bereits bewilligte und tatsächliche gezahlte Rente des Rentenfonds der russischen Föderation im folgenden Jahr weitergezahlt wird. Hiervon ist die Neubeantragung einer Rente nach mehrjähriger Unterbrechung der Zahlung zu unterscheiden. Auch aus dem Internetauftritt www.rusvisa.de, soweit er in deutscher Sprache gefasst ist, geht nicht hervor, dass die Beantragung einer Rente beim Rentenfonds der Russischen Föderation über die Firma B GmbH erfolgen kann.

Bei dieser Sachlage ist es gegenwärtig ganz überwiegend wahrscheinlich, dass § 2 SGB XII dem Anspruch der Antragstellerin nicht entgegensteht, so dass der Anordnungsanspruch im Sinne von § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht ist. Soweit die Antragsgegnerin weitere Ermittlungen zur Aufklärung der Modalitäten der Beantragung einer Rente des Rentenfonds der Russischen Föderation für notwendig halten sollte, kann dies ggf. im Hauptsacheverfahren nachgeholt werden. Ob die Antragsgegnerin den möglichen Anspruch der Antragstellerin auf eine russische Rente gemäß § 93 Abs. 1 SGB XII auf sich überleiten und dann diesen Anspruch gegenüber dem Rentenfonds der Russischen Föderation realisieren kann, hat der Senat im vorliegenden Verfahren ebenso wenig zu prüfen wie die Frage, ob der Antragsgegnerin ein Ersatzanspruch gegen die Antragstellerin nach § 103 SGB XII zustehen könnte.

bb) Auf die §§ 60 ff. Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I), auf die das SG im Wesentlichen seine Prüfung beschränkt hat, kommt es im vorliegenden Verfahren nicht an. Ob die Versagung oder Entziehung einer Sozialleistung nach § 66 Abs. 1 i.V.m. §§ 60 ff. SGB I rechtmäßig ist, ist nur zu prüfen, soweit ein Versagungs- oder Entziehungsbescheid erlassen worden ist, der den streitgegenständlichen Zeitraum im Sinne einer das Verwaltungsverfahren einstweilen beendenden Entscheidung ohne abschließende Ermittlung (vgl. hierzu BSG, Urt. v. 01.07.2009 - B 4 AS 78/08 R -, juris Rn. 12 ff.) regelt und als Regelung im Sinne von § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zu beachten bzw. vollziehbar ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Bei dem Bescheid vom 12.04.2012 handelt es sich zwar um einen Versagungs- oder Entziehungsbescheid nach § 66 Abs. 1 SGB I. Nach Auffassung der Antragsgegnerin regelt dieser jedoch den hier allein streitgegenständlichen Zeitraum ab dem 01.09.2012 nicht. In jedem Fall führt die aufschiebende Wirkung der Klage vom 20.08.2012 (vgl. hierzu oben 1. a)) dazu, dass aus dem Bescheid vom 12.04.2012 keine für die Antragstellerin nachteiligen Folgerungen gezogen werden dürfen, mit der Folge, dass das Verwaltungsverfahren unabhängig von dem Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 60 ff. SGB I durchzuführen und der Anspruch der Antragstellerin allein nach materiellem Recht zu prüfen ist.

b) Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Da sie mit der ihr zur Verfügung stehenden Witwenrente der Deutschen Rentenversicherung Rheinland noch nicht einmal den Regelbedarf von aktuell 374,- Euro monatlich vollständig decken kann und ihr Vermieter zudem die fristlose Kündigung ausgesprochen hat, drohen der Antragstellerin schwere und nicht reparable Nachteile, wenn die Entscheidung in der Hauptsache abgewartet werden würde. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen zudem nicht beziehungslos nebeneinander. Da nach den Ausführungen zu a) gegenwärtig nicht erkennbar ist, warum der Antragstellerin der geltend gemachte Anspruch nicht zustehen sollte, sind an den Anordnungsgrund keine strengen Anforderungen zu stellen.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat auch eine Verpflichtung der Antragsgegnerin ab dem 01.09.2012 ausgesprochen, obwohl der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erst am 11.09.2012 beim SG eingegangen ist. Zudem ist im Hinblick auf die bereits ausgesprochene fristlose Kündigung der Wohnung der Antragstellerin und die Vorschrift des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), wonach eine fristlose Kündigung nur bei vollständigem Ausgleich aller rückständigen Mieten unwirksam wird, von einer von der Vergangenheit in die Gegenwart fortwirkenden Notlage auszugehen, die ausnahmsweise die Erstreckung der einstweiligen Anordnung auf einen Zeitraum vor Antragstellung rechtfertigt.

c) Was die zeitliche Reichweite betrifft, hat der Senat die einstweilige Anordnung im Rahmen des ihm nach § 86b Abs. 2 SGG zustehenden Ermessens längstens auf den 30.06.2013 befristet, da sich der Anspruch der Antragstellerin wegen der zu erwartenden Rentenanpassung voraussichtlich ab dem 01.07.2013 ändern wird.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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