L 4 AS 432/14 B

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 33 AS 6331/12
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 4 AS 432/14 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein gem. § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG erforderliches Vorverfahren ist erst dann durchgeführt, wenn im Anschluss an eine Nachprüfung der mit Widerspruch angefochtenen Verwaltungsentscheidung eine auf diese bezogene Widerspruchsentscheidung ergangen ist (Anschluss BSG, Urteil vom 25. April 2007 - B 12 AL 2/06 R, juris).

2. Der Verfahrensmangel des fehlenden Vorverfahrens ist geheilt, wenn die Widerspruchsentscheidung während des Klageverfahrens ergeht. Wegen der objektiven Funktion des Vorverfahrens und seiner förmlichen Ausgestaltung im SGG kann die Widerspruchsentscheidung - auch im Hinblick auf prozessökonomische Erwägungen - nicht durch eine sachliche, auf Abweisung der Klage und / oder Zurückweisung der Berufung als unbegründet gerichtete Einlassung der für den Widerspruch zuständigen Behörde ersetzt werden (BSG ebd.).
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 19. Februar 2014 wird zurückgewiesen.

Gründe:

I. Die Antragstellerin klagt vor dem Sozialgericht Gotha (SG) gegen die Rückforderung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für den Zeitraum Januar bis August 2008.

Für den genannten Zeitraum wurden der Antragstellerin und zwei weiteren zur Bedarfsge-meinschaft gezählten Personen Leistungen nach dem SGB II vorläufig bewilligt (§ 40 SGB II i.V.m. § 328 Sozialgesetzbuch Drittes Buch [SGB III]). Am 13. August 2012 erließ der Beklagte vier Bescheide. Mit drei Bescheiden wurden die Leistungen für den Streitzeitraum endgültig festgesetzt. Für den Zeitraum Januar bis Mai 2008 wurden geringere Leistungen bewilligt und für den Zeitraum Juni bis August 2008 Leistungen mangels Hilfebedürftigkeit ganz abgelehnt. Parallel dazu erging ein Erstattungsbescheid für den gesamten Zeitraum, mit dem Leistungen in Höhe von 2.280,37 Euro von der Antragstellerin zurückgefordert wurden.

Unter dem 20. August 2012 legte die Antragstellerin Widerspruch "gegen Ihr Schreiben vom 13.08.2012" ein. Aus der Begründung ist ersichtlich, dass sie sich insbesondere gegen die Einkommensanrechnung wendet. Ferner gibt sie an, mit ihrem damals getrennt lebenden Ehemann "nur auf dem Papier" zusammengelebt zu haben und beruft sich neben Vertrauens-schutz auch darauf, die Leistungen verbraucht zu haben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 2012 wies der Beklagte den Widerspruch betreffend den Erstattungsbescheid vom 13. August 2012 zurück. Hinsichtlich der weiteren beanstandeten Bescheide vom selben Tag wird keine Entscheidung getroffen.

Mit Klage vom 30. Oktober 2012 verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren weiter. Sie beantragt, die Bescheide des beklagten Jobcenters vom 13. August 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Oktober 2012 aufzuheben. Parallel beantragt sie Prozesskostenhilfe (PKH).

Mit Klageerwiderung vom 30. Januar 2013 beantragt der Beklagte Klageabweisung und teilt u.a. mit, dass die endgültige Leistungsfestsetzung nicht angegriffen und daher bestandskräftig sei.

Unter dem 15. April 2013 weist das SG darauf hin, dass der Widerspruch "beide Bescheide" betreffe und eine noch ausstehende umfassende Stellungnahme des Beklagten das Vorverfahren ersetze.

Mit Schriftsatz vom 25. Juni 2013 teilt der Beklagte daraufhin mit, dass sich aus seiner Sicht keine neuen rechterheblichen Gesichtspunkte ergeben und verweist auf die bisherigen Ausführungen. Weiterhin wird unkommentiert das angerechnete Einkommen des getrenntlebenden Ehemanns für den Streitzeitraum aufgelistet und Kopien der abschließenden Angaben übersandt.

Mit Beschluss vom 19. Februar 2014 - dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin zu-gestellt am 25. Februar 2014 - wird der PKH-Antrag abgelehnt. Dagegen hat die Antragstelle-rin unter dem 24. März 2014 - eingegangen beim SG am selben Tag - Beschwerde eingelegt.

II. Die statthafte Beschwerde ist zulässig aber unbegründet.

Gem. § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit den §§ 114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) wird Prozesskostenhilfe gewährt, wenn ein Beteiligter nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht setzt voraus, dass Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers auf Grund seiner Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen mindestens für vertretbar hält und von der Möglichkeit der Beweisführung über-zeugt ist. Es muss also auf Grund summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage möglich sein, dass der Antragsteller mit seinem Begehren durchdringen wird, ohne die Anforderungen an die Erfolgsaussichten zu überspannen. Regelmäßig genügt die schlüssige Darlegung mit Beweisantritt (vgl. Geimer in: Zöller, Zivilprozessordnung, § 114 ZPO).

Hinreichende Erfolgsaussichten im vorgenannten Sinne liegen nicht vor. Maßgeblich für die Bewertung der Erfolgsaussichten ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Antrags auf PKH (Senatsbeschluss vom 13. November 2013- L 4 AS 1862/12 B). Änderungen zugunsten des Antragstellers bis zur Beschlussfassung sind zu berücksichtigen.

Soweit sich die Klage gegen die drei Bescheide vom 13. August 2012 über die endgültige Festsetzung von Leistungen richtet, ist sie im Zeitpunkt der Entscheidungsreife bis zur Be-schlussfassung unzulässig. Obwohl die Antragstellerin mit Schreiben vom 20. August 2012 erkennbar gegen alle Bescheide vom 13. August 2012 Widerspruch erhoben hat, ist das Vor-verfahren im Sinne von § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG bzgl. der drei genannten Bescheide über die endgültige Festsetzung von Leistungen nicht durchgeführt worden.

Nachdem das Vorverfahren nicht gem. § 78 Abs. 1 S. 2 SGG entbehrlich ist, ist die - erfolglose - Durchführung eines Vorverfahrens eine nicht disponible Prozessurteilsvoraussetzung (BSG, Urteil vom 18. März 1999 - B 12 KR 8/98 R, juris, m.w.N.). Durchgeführt ist ein Vor-verfahren erst dann, wenn im Anschluss an eine Nachprüfung der mit dem Widerspruch angefochtenen Verwaltungsentscheidung eine auf diese bezogene Widerspruchsentscheidung ergangen ist (BSG, Urteil vom 25. April 2007 – B 12 AL 2/06 R, juris; s. auch BSG, Urteil vom 14. April 2011 - B 8 SO 12/09 R, juris). Hieran fehlt es.

Der Verfahrensmangel des fehlenden Vorverfahrens wurde bislang auch nicht geheilt.

Eine Heilung ist grundsätzlich möglich, wenn die Widerspruchsentscheidung während des Klageverfahrens ergeht. Entgegen einer früher verbreiteten Auffassung (vgl. u.a. BSG SozR 1500 § 78 Nr. 8 und Nr. 15; BSGE 65, 105, 107; BSGE 82, 261, 263) liegt allerdings in der Klageerwiderung keine Widerspruchsentscheidung; auch ein Klageabweisungsantrag macht eine Widerspruchsentscheidung nicht entbehrlich. Wegen der objektiven Funktion des Vorverfahrens und seiner förmlichen Ausgestaltung im SGG (vgl. hierzu im Einzelnen BSG, Ur-teil vom 18. März 1999, a.a.O.) kann die Widerspruchsentscheidung - auch im Hinblick auf prozessökonomische Erwägungen - nicht durch eine sachliche, auf Abweisung der Klage und/oder Zurückweisung der Berufung als unbegründet gerichtete Einlassung der für den Widerspruch zuständigen Behörde ersetzt werden (BSG, Urteil vom 25. April 2007 a. a. O.).

Dem schließt sich der Senat an. Die Auffassung des BSG im genannten Urteil vom 25. April 2007 zur Notwendigkeit eines Vorverfahrens fügt sich in die bisherige Rechtsprechung des BSG ein, wonach die Durchführung des Vorverfahrens nach der Konzeption des § 78 SGG als unverzichtbare Sachurteilsvoraussetzung anzusehen ist. Im Hinblick hierauf hat das BSG trotz entsprechender sachlicher Einlassungen der Behörde im Gerichtsverfahren auf der Durchführung eines Vorverfahrens auch in den Fällen der Klageänderung bestanden (vgl. BSG, Urteil vom 3. März 1999 - B 6 KA 10/98 R, juris, unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 7. Februar 1996 - 6 RKa 42/95, juris; BSG, Urteil vom 21. November 2002, B 3 KR 13/02 R juris), auch einer solchen durch Beteiligtenwechsel auf der Kläger- oder Beklagtenseite (vgl die Rechtsprechungsnachweise im Urteil vom 18. März 1999, a.a.O.), wenn der ursprüngliche Verwaltungsakt den Widerspruchsführer und einen Dritten in gleicher Weise beschwert, jedoch nur der am Vorverfahren nicht beteiligte Dritte klagt (vgl. BSG, Urteil vom 18. März 1999, a.a.O.; ferner BSG, Urteil vom 13. Dezember 2005 - B 1 KR 21/04 R, juris, für die Klage eines Familienversicherten, wenn der Widerspruchsbescheid nur gegenüber dem Stammversicherten ergangen ist) oder wenn die Behörde keinen Widerspruchsbescheid erlassen und diese Weigerung zu Unrecht damit begründet hat, der Kläger könne einen Widerspruchsbescheid nicht beanspruchen (vgl. BSG, Urteil vom 3. März 1999, a.a.O.). Mit dieser Rechtsprechung zu Gunsten einer Selbstkontrolle der Verwaltung und zu Lasten der Prozessökonomie soll der Schutz des betroffenen Bürgers verbessert und die Sozialgerichtsbarkeit entlastet werden (BSG, Urteil vom 25. April 2007, a.a.O.).

Eine Widerspruchsentscheidung ist während des Klageverfahrens bislang nicht ergangen. Die Klageerwiderung und die weitere Stellungnahme ersetzen eine Widerspruchsentscheidung nicht und können auch nicht in eine solche "umgedeutet" werden. Auch aus den sonstigen Umständen ergibt sich nicht, dass sich der Beklagte mit dem Widerspruch auseinandergesetzt hat und eine abschließende Entscheidung dazu treffen wollte. Ganz im Gegenteil beruft sich der Beklagte ausweislich seiner Klageerwiderung ausdrücklich auf die Bestandskraft der Bescheide über die endgültige Festsetzung von Leistungen und nimmt trotz Hinweis des Vorsitzenden in einer weiteren Stellungnahme auf eben diese Klageerwiderung Bezug, verbunden mit der Feststellung, dass sich keine neuen rechtserheblichen Gesichtspunkte ergeben hätten und einer unkommentierten Einkommensberechnung. Dies kann nur als endgültige Weigerung verstanden werden, eine Widerspruchsentscheidung zu treffen, weshalb eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG geboten erscheint. Ein Abwarten erscheint nicht zielführend. Gleichwohl ist es dem SG verwehrt, die Klage im gegenwärtigen Stadium als unzulässig durch Prozessurteil abzuweisen (jedenfalls ohne Fristsetzung: vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 2013- B 13 R 31/12 R, Rn. 20 ). Einem erneuten Antrags auf PKH stünde nach Heilung dieses Mangels nichts entgegen. Soweit sich die Klage gegen den in objektiver Klagehäufung angefochtenen Erstattungsbescheid vom 13. August 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Oktober 2012 richtet, ist sie zwar zulässig, es fehlen gleichwohl - zumindest derzeit - hinreichende Erfolgsaussichten. Gem. § 328 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 SGB III i. V. m. § 40 Abs. 2 Satz 1 SGB II sind auf Grund der vorläufigen Entscheidung erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit mit der abschließenden Entscheidung ein Leistungsanspruch nicht oder nur in geringerer Höhe zuerkannt wird. Nachdem im Rahmen des § 328 Abs. 3 SGB III die Vorschrift des § 40 Abs. 2 SGB II in der für 2008 maßgebenden Fassung keine Anwendung findet (BSG, Urteil vom 23. August 2012 – B 4 AS 169/11 R, juris), ist die Erstattungsentscheidung allein daraufhin zu überprüfen, ob die Überzahlung als Differenz zwischen der vorläufig und der endgültig festgesetzten Leistung richtig berechnet wurde. Insoweit sind Fehler weder dargetan noch ersichtlich. Die Rechtmäßigkeit der endgültigen Leistungsfestsetzung selbst ist gerichtlich nicht zu überprüfen, wenn bzw. solange diesbezüglich keine zulässige Klage anhängig bzw. Bestandskraft eingetreten ist. Nachdem vorliegend die Klage gegen die drei Bescheide über die endgültige Leistungsfestsetzung derzeit unzulässig ist, bedarf es an dieser Stelle keiner weiteren Erörterung, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen getrennt erlassene Beschei-de über die endgültige Leistungsfestsetzung einerseits und die Erstattung andererseits eine rechtliche Einheit bilden.

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten wer-den (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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