L 9 AS 678/12

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 28 AS 6494/10
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 678/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Während des SGB II-Leistungsbezugs zufließende Mittel aus Überschussbeteiligung und Bewertungsreserven einer vor SGB II-Antragstellung abgeschlossenen kapitalbildenden Lebensversicherung sind Vermögen, nicht Einkommen.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 16. Februar 2012 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid.

Der am geborene Kläger bezieht gemeinsam mit seiner am geborenen Ehefrau und der am geborenen Tochter seit Januar 2005 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die Ehefrau des Klägers hatte eine 1992 beginnende kapitalbildende Lebensversicherung ( ) bei der mit einer für den Vertragsablauf am 01. Juni 2010 garantierten Versicherungssumme von 3.423,- EUR und zusätzlich bereits für den Ablauf garantierten Leistungen aus Gewinnanteilen sowie nicht garantierten Gewinnanteilen.

Mit Bescheid vom 26. August 2009 (Bl. 858 f. d. VwA.) bewilligte der Beklagte dem Kläger für den Zeitraum September 2009 bis Februar 2010 monatliche Leistungen in Höhe von EUR 435,86 (hier und im Folgenden jeweils Individualanspruch des Klägers). Mit Änderungsbescheid vom 14. Oktober 2009 (Bl. 873 f. d. VwA.) wurden für den genannten Zeitraum monatliche Leistungen in Höhe von EUR 450,86 bewilligt. Der dagegen gerichtete Widerspruchsbescheid blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25. November 2009).

Im Zusammenhang mit einer Änderungsmitteilung gab der Kläger an, die zu Gunsten seiner Ehefrau bestehende Lebensversicherung sei gekündigt und in eine neue Unfallversicherung umgewandelt worden. Auf Aufforderung der Beklagten legte er eine Kündigungsbestätigung der Versicherungsgesellschaft vor. Danach erlischt die Versicherung am 01. November 2009. Zum Kündigungstermin ergebe sich ein Auszahlungsbetrag in Höhe von EUR 2.880,53. Die Auszahlung setze sich zusammen aus Beträgen von EUR 3.267,90 (Rückkaufswert ohne Überschussanteile), EUR 672,65 (Überschussanteile) und EUR 63,98 (Bewertungsreserven).

Daraufhin hob der Beklagte nach vorheriger Anhörung mit Schreiben vom 06. April 2010 (Bl. 1021 d. VwA.) die Bewilligung u. a. für November 2009 mit Bescheid vom 26. Mai 2010 (Bl. 1056 d. VwA.) teilweise auf und forderte die Erstattung von EUR 353,31, wobei dieser Betrag aus der Zahlung der Überschussanteile und Bewertungsreserven an die Ehefrau des Klägers beim Kläger als Einkommen berücksichtigt wurde. Die Lebensversicherung sei bereits früher bei der Vermögensprüfung berücksichtigt worden, so dass der Rückkaufswert nicht anzurechnen sei. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 26. Mai 2010 lautet u.a. wie folgt:

". Die Entscheidungen vom 26.08.2009 i.d.F.d. Änderungsbescheides vom 14.10.2009 und 05.02.2010 über die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) werden vom 1. November 2009 bis 30. November 2009 und vom 1. März 2010 bis 31. März 2010 für Sie teilweise in Höhe von 407,24 EURO aufgehoben.".

Gegen den Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben vom 23. Juni 2010 (Bl. 1106 f. d. VwA.) Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 2010 (Az.: W 807/10, Bl. 1155 d. VwA.) zurückwies.

Gegen die Bescheide erhob der Kläger am 17. September 2010 Klage zum Sozialgericht. Das Sozialgericht zog Erkundigungen zu Modalitäten der Zahlung von Bewertungsreserven und Überschussanteilen ein (Auskünfte der Versicherung vom 14. September 2011 und 21. Dezember 2011) und hob die angefochtenen Bescheide durch Urteil vom 16. Februar 2012 auf, nachdem der Kläger sein Klagebegehren auf die Anrechnung der Überschussanteile und Bewertungsreserven im November 2009 beschränkt hatte. Das Sozialgericht hat in dem Urteil die Berufung zugelassen.

Gegen das Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der dieser die Aufhebung des Urteils und die Abweisung der Klage begehrt. Er vertritt die Ansicht, das Sozialgericht habe die Überschussanteile und Bewertungsreserven zu Unrecht als Vermögen angesehen. Diese seien Einkommen und daher im Zuflussmonat zu berücksichtigen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 16. Februar 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Das Sozialgericht habe die Überschussanteile und die Bewertungsreserven zu Recht als Vermögen angesehen und die Bescheide des Beklagten, soweit sie noch angefochten waren, aufgehoben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der geheimen Beratung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist ohne Rücksicht auf die Beschwer nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, nachdem sie durch das Sozialgericht zugelassen wurde. Sie ist auch sonst zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.

Die Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die angefochtenen Bescheide, soweit sie noch Gegenstand des Verfahrens waren, zu Recht aufgehoben. Die angefochtenen Bescheide waren insoweit rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG).

Streitgegenstand ist der Bescheid vom 26. Mai 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 2010 (Az.: W 807/10), und zwar infolge der Beschränkung des Klageantrages nur noch im Hinblick auf die Aufhebung und Erstattungsforderung bezüglich des Monats November 2009, gegen die sich die zulässige Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 SGG) richtet.

Die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung des Beklagten ist rechtswidrig, weil sie einer rechtlichen Grundlage entbehrt. Insbesondere ist der vom Beklagten angeführte § 40 Abs. 1 SGB II i. V. m. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht einschlägig, weil weder Einkommen noch zur Minderung des Anspruchs führendes Vermögen erzielt worden ist.

Weder die Überschussbeteiligung noch die Bewertungsreserven stellen Einkommen i.S.d. SGB II dar. Vielmehr handelt es sich um Vermögen.

Bei der in Rede stehenden Überschussbeteiligung handelt es sich um die Beteiligung des Versicherungsnehmers am Überschuss gemäß dem handelsrechtlichen Jahresabschluss; Bewertungsreserven entstehen, wenn der tatsächliche Marktwert einer Kapitalanlage höher ist als der in der Bilanz ausgewiesene Buchwert der Kapitalanlage; es geht darum, den Versicherungsnehmer auch an den Buchgewinnen teilhaben zu lassen (vgl. Auskunft der Versicherung vom 14. September 2011). Die Gewährung dieser Leistungen ist vertraglich vereinbart. Während der Laufzeit der Versicherung steht dem Versicherungsnehmer eine Verfügungsbefugnis über bereits zugeteilte Überschüsse nicht zu. Dies erfolgt erst bei Kündigung der Versicherung, wenn der Versicherungsnehmer Anspruch auf Auszahlung des Rückkaufswertes hat, dessen Bestandteil Überschussbeteiligung und Bewertungsreserven sind. Diese Beträge sind dann unwiderruflich zugeteilt (vgl. Auskunft der Versicherung vom 21. Dezember 2011).

Auf dieser Grundlage ist davon auszugehen, dass sowohl Überschussbeteiligungen als auch Bewertungsreserven Einkommen i. S. d. SGB II darstellen. Denn beide Leistungen sind untrennbar mit dem Versicherungsvertrag verbunden. Sie teilen das Schicksal des Vertrags. Es handelt sich um Zuflüsse, die unmittelbar zu diesem Vermögensstamm gehören und bis zum Vertragsende nicht der Dispositionsbefugnis des Versicherungsnehmers unterliegen. Dementsprechend ist kein Grund ersichtlich, sie rechtlich anders zu beurteilen als den übrigen Rückkaufswert der Lebensversicherung, der hier - zwischen den Beteiligten unstreitig - als Vermögen zu qualifizieren ist.

Für die insoweit zeitlich vor der SGB II- Antragstellung entstandenen und bereits zu diesem Zeitpunkt für den Ablauf garantierten Leistungen aus Gewinnanteilen (vgl. die jährliche Auskunft "Stand und Wertentwicklung", z. B. - für einen späteren Zeitpunkt - Bl. 520R d. VwA.) liegt dies ohne weiteres auf der Hand, so dass die insoweit nicht differenzierende Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung in diesem Umfang in jedem Fall rechtswidrig ist. Aber auch hinsichtlich der erst nach der SGB II-Antragstellung entstandenen Beträge ergibt sich nichts anderes. Im Hinblick auf die beschriebenen Eigenarten von Überschussbeteiligungen und Bewertungsreserven sieht der Senat wesentliche Unterschiede zur Behandlung von Zinsen aus Schonvermögen, die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als Einnahmen in Geld und als Einkommen des Hilfebedürftigen zu berücksichtigen sind, wenn sie diesem nach Antragstellung zufließen.

Der Senat sieht sich in Übereinstimmung mit dem Bundessozialgericht, das im Urteil vom 20. Februar 2014, Az.: B 14 AS 10/13 R, bei dem es um die Berücksichtigung von Vermögen geht, ausgeführt hat:

"Erst wenn auf dieser Grundlage festgestellt ist, dass diese Rentenversicherung als Vermögen zu berücksichtigen ist und in welcher Höhe sie als Bedarfsdeckungsmöglichkeit der Klägerin zu berücksichtigen ist (Rückkaufswert zuzüglich Überschussbeteiligung abzüglich Kapitalertragssteuer und ggf. weiterer Verwertungskosten; vgl. BSG Urteil vom 15. April 2008, Az.: B 14 AS 27/07 R; BSG Urteil vom 11. Dezember 2012, Az.: B 4 AS 29/12 R), lässt sich die Feststellung treffen, ob die Klägerin unter Berücksichtigung dieser Versicherung zusammen mit den ihr sofort zur Verfügung stehenden Guthaben der beiden Konten den Gesamtbetrag der Vermögensfreibeträge nach § 12 Abs. 2 SGB II in Höhe von 7050 Euro überschreitet und sie hilfebedürftig ist oder nicht.".

Gründe, dies im vorliegenden Zusammenhang anders zu beurteilen, sind nicht ersichtlich.

Eine Berücksichtigung der Bewertungsreserven und der Überschussbeteiligung als Vermögen kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil das Vermögen des Klägers bzw. dessen Ehefrau die hier maßgeblichen Freibeträge des § 12 Abs. 2 SGB II (in der Fassung vom 20. April 2007, BGBl. I 2007, S. 554 ff.) bei weitem nicht erreicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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