L 7 AS 180/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AS 256/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 180/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 10.06.2008 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat die Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt höhere Kosten für Unterkunft und Heizung von Februar 2007 bis September 2007 im Wege des Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X und von Oktober 2007 bis März 2008 im Wege der Anfechtung einer Leistungsbewilligung.

Der am 00.00.1950 geborene alleinstehende Kläger war zuletzt 1983 berufstätig. Seit 2005 bezieht er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Seit 1978 bewohnt er eine Mietwohnung in der U-straße 00, E. Die Wohnung hat eine Größe von 75 qm. Nach einer Bescheinigung der Vermieterin vom 10.12.2004 waren jeweils monatlich eine Nettokaltmiete von 305 EUR, eine Heizkostenpauschale von 68,70 EUR sowie kalte Nebenkosten von 36,70 EUR zu zahlen. Zunächst übernahm der Beklagte die Kosten für Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe. Am 22.02.2005 forderte der Beklagte den Kläger zur Senkung der Unterkunftskosten auf bruttokalt 245 EUR auf. Eine Klage gegen die Absenkung der Unterkunftskosten auf 245 EUR zuzüglich tatsächlicher Heizkosten für den Zeitraum 01.07.2005 - 31.03.2006 wies das Sozialgericht Aachen mit Urteil vom 08.08.2007 - S 5 (15) AS 193/05 - rechtskräftig ab.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 28.03.2006 bewilligte der Beklagte Leistungen vom 01.04.2006 - 30.09.2006. Er berücksichtigte hierbei Unterkunftskosten iHv 245 EUR sowie 68,36 EUR Heizkosten (insgesamt 313,36 EUR). Mit bestandskräftigem Bescheid vom 11.09.2006 bewilligte der Beklagte Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe dieses Betrags vom 01.10.2006 bis 31.03.2007. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 12.03.2007 bewilligte der Beklagte bis 30.09.2007 entsprechende Kosten.

Mit der Vorlage einer Wohnungsauflistung beantragte der Kläger am 09.08.2007 sinngemäß "ab Februar 2007" höhere Unterkunftskosten. Zudem stellte er ab Oktober 2007 einen Weiterbewilligungsantrag. Mit Bescheid vom 01.10.2007 bewilligte der Beklagte Arbeitslosengeld II vom 01.10.2007 bis zum 31.03.2008. Hierin enthalten waren Unterkunftskosten iHv 299 EUR (245 EUR Grundmiete sowie 54 EUR Heizkosten). Mit Bescheid vom 23.10.2007 lehnte der Beklagte die Rücknahme der ab 11.09.2006 ergangenen Bescheide gem. § 44 SGB X ab. Die Bescheide seien nicht rechtswidrig.

Gegen die Bescheide vom 01.10.2007 und vom 23.10.2007 legte der Kläger am 29.10.2007 Widerspruch ein. Er habe durch die Vorlage der Wohnungsauflistung belegt, dass Wohnungen in E zu dem vom Beklagten angenommenen Preis nicht zu erhalten seien. Beide Widersprüche wies der Beklagte mit Bescheid vom 05.11.2007 zurück.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 30.11.2007 beim Sozialgericht Aachen erhobene Klage. Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 23.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2007 zu verpflichten, in der Zeit von April 2006 bis September 2007 im Rahmen des ihm bewilligten Arbeitslosengeldes II die vollen Kosten der Unterkunft und Heizung zu berücksichtigen
sowie
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 01.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2007 zu verpflichten, in der Zeit von Oktober 2007 bis März 2008 im Rahmen des ihm bewilligten Arbeitslosengeldes II die vollen Kosten der Unterkunft und Heizung zu berücksichtigen
sowie hilfsweise
für den Fall des Unterliegens mit dem Antrag zu 2) den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 01.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2007 zu verpflichten, in der Zeit von Oktober 2007 bis März 2008 im Rahmen des ihm bewilligten Arbeitslosengeldes II die vollen Heizkosten iHv 68,36 EUR zu berücksichtigen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat diverse Unterlagen über Wohnungsangebote in E vorgelegt.

Mit Urteil vom 10.06.2008 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Auf die Begründung der Entscheidung wird verwiesen.

Gegen diese am 11.07.2008 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 11.08.2008 erhobene Berufung des Klägers. Der Kläger begehrt weiterhin für den streitigen Zeitraum Unterkunftskosten in Höhe seiner tatsächlichen Aufwendungen.

Der Gutachterausschuss für die Grundstückswerte in der Stadt E hat in Stellungnahmen vom 08.06.2011 und vom 12.10.2011 mitgeteilt, dass die Datenauswertung, die dem vom Sozialgericht angewandten Mietspiegel zugrunde lagen, nicht repräsentativ war, da nur Daten im Fall des Verkaufs einer Immobilie erhoben worden seien. In einem Verhandlungstermin am 22.12.2011 hat der als Zeuge gehörte Vorsitzende des Gutachterausschusses und Leiter des Vermessungsamtes G näher erläutert, dass die dem Mietspiegel zugrunde liegenden Daten aus dem genannten Grund nicht valide seien. Am 11.03.2016 hat der Beklagte daraufhin folgendes Teilanerkenntnis abgegeben:

"Unter teilweiser Anerkennung des Klageanspruchs und Abänderung der Bescheide vom 01.10.2007 sowie 23.10.2007, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2007, verpflichte ich mich, für die Zeit vom 01.02.2007 bis 31.03.2008 Kosten der Unterkunft und Heizung unter Zugrundelegung einer Bruttokaltmiete vom 330 EUR sowie Erstattung der Heizkosten in tatsächlicher Höhe zu bewilligen und eine Nachzahlung zu erbringen."

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 10.06.2008 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 01.10.2007 und 23.10.2007, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2007 zu verurteilen, über das Teilanerkenntnis vom 11.03.2016 hinaus für die Zeit vom 01.02.2007 bis zum 31.03.2008 höhere Unterkunftskosten zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält einen über das Teilanerkenntnis hinausgehenden Anspruch für nicht gegeben.

Der Senat hat Beweis erhoben über die dem Mietspiegel zugrundeliegenden Daten durch Anhörung des Zeugen G. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 22.12.2011 verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Akten S 5 (15) AS 193/05, S 11 AS 255/07 ER, die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens sind die Bescheide vom 01.10.2007 und 23.10.2007 jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2007 und des Teilanerkenntnisses vom 11.03.2016. Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren höhere Unterkunftskosten für die Zeiträume Februar 2007 bis September 2007 (Bescheid vom 23.10.2007, § 44 SGB X) sowie vom Oktober 2007 bis März 2008 (Gegenstand des Bewilligungsbescheides vom 01.10.2007).

Die zulässige Berufung ist nach Abgabe des Teilanerkenntnisses vom 11.03.2016, das als Verwaltungsakt angesehen werden kann und gem. § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist (hierzu nur Werhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl § 101 Rn 19) nicht (mehr) begründet. Zu Recht und in zutreffendem Umfang hat der Beklagte den Klageanspruch mit Teilanerkenntnis vom 11.03.2016 nur teilweise anerkannt.

Rechtsgrundlage für die Übernahme der Unterkunftskosten für den Kläger, der die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II unstreitig erfüllt, ist § 22 Abs. 1 SGB II in der im streitigen Zeitraum geltenden Fassung. Hiernach werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe erbracht, soweit diese angemessen sind. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf der Bedarfsgemeinschaft solange zu berücksichtigen, wie es der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zumutbar ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Anwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. Der Begriff der Angemessenheit unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der uneingeschränkten richterlichen Kontrolle (ständige Rechtsprechung, vgl nur BSG Urteile vom 07.11.2006 - B 7b AS 10/06 R, vom 17.12.2009 - B 4 AS 27/09 R, vom 19.10.2010 - B 14 AS 50/10 R und vom 16.06.2015 - B 4 AS 44/14 R; Urteile des Senats vom 29.10.2015 - L 7 AS 1310/11 und vom 24.11.2016 - L 7 AS 723/16). Zur Festlegung der abstrakt angemessenen Leistungen für die Unterkunft sind zunächst die angemessene Wohnungsgröße und der maßgebliche örtliche Vergleichsraum zu ermitteln. Angemessen ist eine Wohnung, wenn sie nach Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen entspricht und keinen gehobenen Wohnstandard aufweist, wobei es genügt, dass das Produkt aus Wohnfläche und Standard, das sich in der Wohnungsmiete niederschlägt, angemessen ist (BSG Urteile vom 18.11.2014 - B 4 AS 9/14 R und vom 16.06.2015 - B 14 AS 36/08 R). Ein Konzept zur Ermittlung der angemessenen Bruttokaltmiete erfordert nach dieser Rechtsprechung ein planmäßiges Vorgehen im Sinne einer systematischen Ermittlung und Bewertung genereller, wenn auch orts- und zeitbedingter Tatsachen für sämtliche Anwendungsfälle im maßgeblichen Raum. Von der Schlüssigkeit eines Konzepts ist auszugehen, sofern die folgenden Mindestvoraussetzungen erfüllt sind:

- Die Datenerhebung darf ausschließlich in dem genau eingegrenzten und muss über den gesamten Vergleichsraum erfolgen;
- eine nachvollziehbare Definition des Gegenstandes der Beobachtung (Art von Wohnungen, Differenzierung nach Standard der Wohnungen, Brutto- und Nettomiete/Vergleichbarkeit, Differenzierung nach Wohnungsgröße);
- Angaben über den Beobachtungszeitraum;
- Festlegung der Art und Weise der Datenerhebung (Erkenntnisquellen, zB Mietspiegel);
- Repräsentativität des Umfangs der einbezogenen Daten;
- Validität der Datenerhebung;
- Einhaltung anerkannter mathematisch-statistischer Grundsätze der Datenauswertung;
- Angaben über die gezogenen Schlüsse (zB Spannoberwert oder Kappungsgrenze).

Der Beklagte verfügte im streitigen Zeitraum nicht über ein schlüssiges Konzept zur Bestimmung der angemessenen Bruttokaltmiete. Im streitgegenständlichen Zeitraum fehlte es für die Erstellung eines derartigen Konzepts bereits an einer geeigneten Datengrundlage. Dies folgt aus den eigenen Darlegungen des Beklagten, der in mehreren Stellungnahmen und durch die Einlassungen des Zeugen G bestätigt hat, dass für den streitigen Zeitraum keine geeigneten Daten zur Verfügung stehen, die ein schlüssiges Konzept ermöglichen. Auch eine nachträgliche Erhebung dieser Daten mit vertretbarem Aufwand (hierzu BSG Urteile vom 22.09.2009 - B 4 AS 18/09 R, vom 02.07.2009 - B 14 AS 33/08 R, vom 17.12.2009 - B 4 AS 27/09 R, vom 17.12.2009 - B 4 AS 50/09 R, vom 12.12.2013 - B 4 AS 87/12 R und vom 16.06.2015 - B 4 AS 44/14 R) scheidet nach diesen Ausführungen aus.

Folge hiervon für die Bestimmung der angemessenen Unterkunftskosten in Höhe der Bruttokaltmiete ist ein Rückgriff auf die Tabellenwerte zum WoGG in der in der jeweils maßgebenden Fassung. Ein Rückgriff auf die Werte des WoGG zur Festlegung der abstrakt angemessenen Kosten der Unterkunft im Sinne einer Obergrenze ist zulässig, wenn - wie hier für den streitigen Zeitraum - Erkenntnismöglichkeiten und -mittel zur Festlegung der angemessenen Aufwendungen der Unterkunft nach einem schlüssigen Konzept nicht vorhanden sind. Wegen der dann nur abstrakten, vom Einzelfall und den konkreten Umständen im Vergleichsraum losgelösten Begrenzung ist zur Bestimmung der angemessenen Nettokaltmiete zuzüglich der kalten Betriebskosten auf den jeweiligen Höchstbetrag der Tabelle zurückzugreifen und ein "Sicherheitszuschlag" von 10 % einzubeziehen (vgl nur BSG Urteil vom 10.09.2013 - B 4 AS 4/13 R).

In den streitigen Zeiträumen galten die Tabellenwerte zu § 8 WoGG. E hatte die Mietstufe III, für eine Einzelperson war eine Höchstgrenze von 300 EUR maßgeblich, zuzüglich eines Sicherheitszuschlags iHv 10% kann der Kläger monatlich 330 EUR Bruttokaltmiete beanspruchen. Heizkosten werden gesondert in tatsächlicher Höhe erbracht. Diesen Betrag hat der Beklagte am 11.03.2016 anerkannt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger mit seinem Begehren im Wesentlichen erfolgreich war, die Zuvielforderung geringfügig war und der Beklagte durch die zunächst erfolgte Anwendung eines nicht schlüssigen Konzepts den Rechtsstreit veranlasst hat.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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