L 6 VK 4523/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 26 VK 1444/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VK 4523/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Hat die Versorgungsverwaltung unter Verstoß gegen § 60 Abs. 1 Satz 3 oder Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG die rückwirkende Gewährung von Leistungen für die Zeit vor der Stellung des Erstantrags abgelehnt und ist dieser Verwaltungsakt bestandskräftig geworden, so muss sie auf die spätere Verpflichtung zu dessen Rücknahme hin Leistungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahre vor dem Antrag, gerechnet von Beginn des Jahres seiner Stellung an, erbringen.
Die Berufung des Klägers und die Anschlussberufung des Beklagten werden zurückgewiesen.

Der Beklagte erstattet auch die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Rahmen von § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) darüber, ob aufgrund einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bereits ab dem Beitritt Polens zur Europäischen Union vom 1. Mai 2004 rückwirkend Ausgleichsrente und Ehegattenzuschlag an ein in Polen lebendes Kriegsopfer zu gewähren sind.

Der im Jahre 1936 im heutigen K./K. (damals K. im Landkreis C. des Deutschen Reiches) geborene Kläger deutscher Staatsangehörigkeit verlor am 7. März 1946 durch die Explosion einer Mine, die sein Bruder auf dem Schulplatz gefunden und nach Hause mitgebracht hatte, den linken Unterarm und das linke Auge. Nachdem ein erster Antrag auf Beschädigtenversorgung im Jahr 1970 zurückgenommen worden war, beantragte der Kläger diese erneut mit einem am 1. November 1996 beim Versorgungsamt H. eingegangenem Schreiben, das dieses an das Versorgungsamt M. weiterleitete. Mit Bescheid vom 21. September 1998 bewilligte dieses dem Kläger Beschädigtenversorgung im Rahmen einer Teilversorgung gemäß § 64 Abs. 1 i.V.m. § 64e Abs. 1 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in der damaligen Fassung und erkannte als Schädigungsfolgen einen Verlust des linken Armes im Unterarm sowie Atrophie und Blindheit des linken Auges an. Hierdurch bestehe seit 1. November 1996 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE, heute Grad der Schädigungsfolgen [GdS]) von 70 v.H. und ein Anspruch auf Rente mit einem Nachzahlungsbetrag von 8.844,00 DM sowie einer laufenden Zahlung von 371,00 DM monatlich ab dem 1. November 1998. Auf den Widerspruch des Klägers stellte das Versorgungsamt M. mit Bescheid vom 16. September 1999 eine geringfügige kombinierte Schwerhörigkeit des linken Ohres als weitere Schädigungsfolge fest, die allerdings nicht zu einer Erhöhung der MdE führe. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2000 wies das Landesversorgungsamt N. den Widerspruch zurück, soweit der Kläger die Beschädigtenversorgung rückwirkend ab 1970 begehrte. Der dagegen bis zum Bundessozialgericht (BSG) geführte Rechtsstreit (Aktenzeichen des Landessozialgerichts N.: L 10 V 40/01) blieb erfolglos.

Im weiteren Verlauf wurden dem Kläger mehrere Erholungs- und Badekuren in der Bundesrepublik Deutschland wegen der Schädigungsfolgen bewilligt und die Teilversorgung im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen mehrfach erhöht.

Der Kläger war seit dem 16. Juli 1995 verheiratet. Seine Frau starb am 24. Januar 2011. Von Beruf ist er Betriebswirt und seit 1. April 1997 zunächst ohne Arbeit und anschließend in Altersrente. Wegen seines Umzugs nach K. (ehemals K.) wechselte die Zuständigkeit zum früheren Versorgungsamt R ...

Am 1. Mai 2004 trat unter anderem Polen der Europäischen Union bei. Auf Vorlage des Sozialgerichts Stuttgart (SG) entschied der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit Urteil vom 4. Dezember 2008 (Rs. Zablocka-Weyhermüller, Az. C-221/07), dass Art. 18 Abs. 1 des (früheren) Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV, heute Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union [AEUV]) dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der dieser Staat die Zahlung bestimmter Leistungen für hinterbliebene Ehegatten von Kriegsopfern allein deshalb verweigert, weil die Betroffenen im Gebiet einiger bestimmter Mitgliedstaaten wohnen. In dem damaligen Verfahren hatte der Beklagte bei der Berechnung der in Polen lebenden Berechtigten § 64e BVG angewandt – wie auch im Falle des Klägers. Deutschland hatte in jenem Verfahren vorgebracht, § 64e BVG diene dazu, den außerhalb Deutschlands wohnenden Begünstigten eine angemessene Leistung unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Unterschiede hinsichtlich der Lebenshaltungskosten, der Einkommen und des durchschnittlichen Betrags der in diesem Mitgliedstaat und dem des Wohnsitzes des Berechtigten gezahlten Sozialleistungen zu gewähren. Diese Erwägungen, so der EuGH, reichten nicht aus, die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, die sich zwischen den Angehörigen jener Mitgliedsstaaten, die in der Auslandsversorgungsverordnung (AuslVersV) genannt seien, und den Deutschen bzw. Angehörigen nicht aufgeführter Mitgliedsstaaten zu rechtfertigen. Die Ungleichbehandlung sei unverhältnismäßig bzw. ungeeignet, das verfolgte Ziel zu erreichen. Es gebe Staaten, die nicht in § 1 AuslVersV erwähnt würden und in denen die Lebenshaltungskosten noch geringer seien als in einigen in dieser Vorschrift aufgeführten Mitgliedstaaten. Im Übrigen seien die Unterschiede zwischen den dort erwähnten Staaten beträchtlich. Auch die weiteren Erwägungen Deutschlands reichten nach Einschätzung des EuGH nicht aus, um die genannte Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. Dies galt insbesondere für das Vorbringen Deutschlands, die Überprüfung der Einkommens- und Beschäftigungssituation im Ausland sei schwierig, eine solche sei aber notwendig, wenn einkommensabhängige Leistungen ins Ausland gewährt würden. Hierzu führte der EuGH aus, diese Erwägung träfen auch auf andere Staaten, die in § 1 der AuslVersV nicht genannt seien, zu, wobei die Mitgliedsstaaten der EU zu umfassender Zusammenarbeit im Verwaltungsbereich verpflichtet seien.

Das B. teilte mit Rundschreiben vom 17. Juni 2009 den oberen Versorgungsbehörden der Länder mit, das Urteil des EuGH sei zeitnah umzusetzen, und zwar rückwirkend auf den EU-Beitritt der fraglichen Länder, im Falle Polens also ab dem 1. Mai 2004. Diese (zügige) Neubescheidung mit Wirkung auf den EU-Beitritt solle sich zumindest auf die einkommensunabhängigen Geldleistungen (z.B. die Grundrente) erstrecken. Für die einkommensabhängigen Leistungen (z.B. die Ausgleichsrente) müssten zum Teil umfangreiche Ermittlungen durchgeführt werden. Es sei davon auszugehen, dass "mögliche Berechtigte zur Stellung von Anträgen aufgefordert wurden und Leistungen bei Vorliegen der Voraussetzungen beschieden werden".

Mit dem Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 20. Juni 2011 (BGBl. I S. 1114) änderte der Bund das Recht der Auslandsversorgung in den §§ 64 ff. BVG ab, dabei wurden § 64e BVG und die AuslVersV aufgehoben. Das Gesetz trat ohne Übergangsregelung am 1. Juli 2011 in Kraft. Mit dieser Änderung sollte das Urteil des EuGH vom 4. Dezember 2008 umgesetzt werden (BT-Drs. 17/5311, S. 22). Der Gesetzgeber führte auch aus, auf Grund des Rundschreibens des B. vom 17. Juni 2009 sei mit der Umsetzung bereits begonnen worden, "so dass die Grundrenten von Berechtigten in osteuropäischen EU-Staaten bereits angeglichen" worden seien (a.a.O., S. 13).

Auf Grund des Urteils des EuGH leitete der Beklagte von Amts wegen ein Überprüfungsverfahren hinsichtlich der bislang gewährten Teilversorgung ein. Zunächst mit Bescheid vom 11. November 2009 erhöhte er die laufende Teilversorgung ab Dezember 2009 von 415,00 Euro auf 427,00 Euro monatlich. Er führte darin aus, der Bescheid ergehe auf Grund einer "geänderten Rechtsauffassung" zur Auslandsversorgung Ost. Er wies darauf hin, es werde "noch entschieden", ob "eine rückwirkende Zahlung der Versorgungsbezüge nach § 64 BVG und ob weitere einkommensunabhängige Leistungen zustehen". Entsprechende einkommensabhängige Leistungen seien zu beantragen. Mit Bescheid vom 30. März 2010 gewährte der Beklagte zudem einen Pauschbetrag (Kleiderverschleißpauschale) nach § 15 BVG für den Unterarmverlust (Bewertungszahl 14) rückwirkend ab 1. Mai 2004.

Am 2. März 2016 ging ein Schreiben des Klägers beim Landratsamt R. ein, in dem er u.a. ausführte, dass ein guter Bekannter, der Jurist sei, ihm geraten habe, dass ihm durch die Europäische Union eine Ausgleichsrente ab 2004 zustehe, zusätzlich aufgrund des Todes seiner Frau. Der Beklagte wertete dies als Antrag auf Gewährung einer Ausgleichsrente und forderte Unterlagen zur Einkommensprüfung an. Aus den daraufhin übersandten Unterlagen ergab sich der Bezug einer polnischen Altersrente, unter deren Anrechnung der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 13. April 2016 eine Ausgleichsrente in Höhe von 214,00 Euro monatlich rückwirkend ab 1. März 2016 (Antragsmonat) gewährte. Mit Schreiben vom 13. Mai 2016 bedankte sich der Kläger und erkundigte sich nach der Ausgleichsrente für die Jahre, in denen ihm nicht bewusst gewesen sei, dass ihm diese aufgrund des EuGH-Urteils zustehe. Der Beklagte antwortete mit Schreiben vom 18. Mai 2016, dass die Ausgleichsrente frühestens mit dem Antragsmonat beginne.

Am 8. Dezember 2016 beantragte der Kläger über seinen späteren Prozessbevollmächtigten, der in Deutschland ansässig ist, die Überprüfung des Bescheides vom 13. April 2016 sowie die Gewährung von Ausgleichsrente und Ehegattenzuschlag (letzteren bis zum Tod der Ehefrau im Jahr 2011) bereits ab dem EU-Beitritt Polens am 1. Mai 2004 bzw. nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Wiederherstellungsanspruches spätestens ab 2012.

Mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 12. Januar 2017 lehnte der Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 13. April 2016 ab. An dessen Bindungswirkung sei festzuhalten, da keine neuen Gesichtspunkte oder rechtserheblichen Tatsachen vorgetragen worden seien, die nicht schon bei seinem Erlass bekannt gewesen seien. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch, mit dem er sein Vorbingen im Überprüfungsantrag wörtlich wiederholte. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. März 2017 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Ausgleichsrente sei eine einkommensabhängige Leistung, die gesondert zu beantragen sei, worauf der Kläger im Bescheid vom 11. November 2009 hingewiesen worden sei. Der Antrag sei erst am 2. März 2016 gestellt worden, weshalb die Ausgleichrente ab 1. März 2016 gewährt werde.

Hiergegen hat der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten am 21. März 2017 Klage beim SG erhoben und beantragt, die Ausgleichsrente auch für den Zeitraum ab dem 1. Mai 2004 bis zum 29. Februar 2016, hilfsweise ab dem 1. Januar 2012 bis zum 29. Februar 2016 zu gewähren sowie den Ehegattenzuschlag ab dem 1. Mai 2004 bis zum 24. Januar 2011 zu gewähren. Er hat zusätzlich vorgetragen, auch aus dem Rundschreiben des B. sei nicht zu entnehmen, dass die Leistungen erst ab Antragstellung zu gewähren seien, vielmehr sei dort nur auf eine Antragstellung an sich hingewiesen. Ferner weise das Rundschreiben an anderer Stelle darauf hin, dass für zurückliegende Bewilligungszeiträume der jeweilige Jahresdurchschnitt des Wechselkurses zu Grunde zu legen sei. Daraus folge, dass eine rückwirkende Bewilligung ausdrücklich für möglich gehalten werde. In einem weiteren Schriftsatz vom 13. Juli 2017 hat der Kläger gerügt, der Beklagte habe ihn nicht eindeutig genug über die neue Rechtslage unterrichtet oder ihn darauf hingewiesen, dass einkommensabhängige Leistungen – gesondert – zu beantragen seien. Dies habe ihm aber oblegen.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Er hat ergänzend ausgeführt, der Anspruch des Klägers habe zwar seit dem 1. Mai 2004 bestanden. Der Kläger habe jedoch erst nach Bekanntgabe des EuGH-Urteils über die erforderliche Antragstellung informiert werden können. Dies sei dann mit dem Bescheid vom 11. November 2009 in ausreichendem Maße geschehen. Der damals erteilte Hinweis sei unmissverständlich und eindeutig gewesen. Der Kläger sei der deutschen Sprache mächtig.

Mit Urteil vom 22. August 2017 – im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung – hat das SG unter Abänderung des Bescheides vom 12. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2017 den Beklagten verpflichtet, den Bescheid vom 13. April 2016 insoweit zurückzunehmen, als dem Kläger die Ausgleichsrente für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 29. Februar 2016 versagt wird, und den Beklagten verurteilt, dem Kläger auch für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 29. Februar 2016 die Ausgleichsrente zu gewähren. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Diese sei hinsichtlich des Antrages auf Gewährung eines Ehegattenzuschlags bereits unzulässig, weil der Beklagte über einen solchen im Bescheid vom 13. April 2016, dessen Rücknahme streitgegenständlich sei, nicht entschieden habe.

Hinsichtlich der Ausgleichsrente habe der Kläger entgegen der Ansicht des Beklagten bereits ab dem 1. Januar 2012 einen Anspruch gehabt, jedoch nicht für die Zeit davor ab dem 1. Mai 2004. Er habe zwar den Antrag erst im März 2016 gestellt, so dass die Leistungen auch erst mit diesem Monat hätten beginnen können. Er sei weiter nicht – auch nicht unter Würdigung des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes – ohne sein Verschulden an einer Antragstellung gehindert gewesen, so dass er Leistungen für die Zeit vor Antragstellung nicht nach § 60 BVG verlangen könne. Das fehlende Wissen um gesetzliche Ansprüche stelle keinen Hinderungsgrund dar, weil nach dem "Publizitätsgrundsatz" jedem Bürger gesetzliche Bestimmungen nach ihrer Verkündung bekannt zu sein hätten und das Sozialrecht viele Möglichkeiten biete, sich zu informieren. Auch der Umstand, dass eine Person rechtsunkundig sei oder aus einem fremden Sprach- oder Kulturkreis komme, reiche nicht aus. Die Forderungen an einen Ausländer, sich nach deutschen Rechtsvorschriften zu erkundigen, stelle nichts Unzumutbares dar. Der Kläger hätte unter Anwendung äußerster Sorgfalt beim Beklagten nachfragen und sich erkundigen können, ob eventuell weitere Ansprüche beständen.

Jedoch sei der Kläger jedenfalls so zu stellen, als habe er einkommensabhängige Leistungen spätestens am 1. Januar 2012 beantragt. § 60 BVG schließe das Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht aus. Dieser greife hier ein. Der Beklagte habe pflichtwidrig eine gebotene Beratung über bestehende Antragsmöglichkeiten unterlassen. Es hätte sich hier eine Spontanberatung aufdrängen müssen. Eine solche Beratungsobliegenheit gelte insbesondere im sozialen Entschädigungsrecht und hier auch zur effektiven Umsetzung des Art. 21 AEUV. Der Publizitätsgrundsatz gelte nur für verkündete Gesetze. Die Berechtigung, einkommensabhängige Leistungen ins Ausland zu beziehen, habe sich hier aus dem Urteil des EuGH und dem Runderlass des B. ergeben. Die hier fehlende – ja der tatsächlichen Rechtslage widersprechende – Publizität hebe die Anforderung an Ausländer auf, sich nach den maßgeblichen Rechtsvorschriften zu erkundigen. Auch das B. sei in dem Rundschreiben davon ausgegangen, dass mögliche Berechtigte ausdrücklich zur Stellung von Anträgen aufgefordert würden. Dies gelte umso mehr, als die Aufsplittung in einkommensabhängige und einkommensunabhängige Leistungen sich hier als ein Relikt aus der für unionsrechtswidrig erklärten Auslandsteilversorgung dargestellt habe. Diese Beratungspflicht habe der Beklagte nicht erfüllt. Anders als er meine, sei der eine Satz im Bescheid vom 11. November 2009, entsprechende einkommensabhängige Leistungen seien zu beantragen, nicht unmissverständlich und eindeutig, sondern völlig unzureichend gewesen, um den Kläger ausreichend zu informieren. Bereits optisch finde er sich bei den Zahlungsmodalitäten, also an unerwarteter Stelle, und nach der Ankündigung, der Beklagte werde noch über weitere Leistungen entscheiden. Es seien keine Hinweise auf mögliche Rechtsverluste bei einem Unterbleiben eines Antrags gegeben worden. Allein aus der Tatsache, dass nunmehr "Inlandsversorgung" zu gewähren sei, erschließe sich nicht, dass die zusätzlichen Leistungen ohne Antragstellung gleichwohl nicht gewährt würden. Dies sei umso gravierender, als der Bescheid vom 30. März 2010 dann gar nicht mehr nach einkommensabhängigen und einkommensunabhängigen Leistungen differenziert habe, sondern pauschal von "Versorgungsbezügen" spreche. Beim Empfänger erwecke dies den Eindruck, es sei umfassend über alle Leistungen entschieden worden. Da demnach die Spontanberatungspflicht verletzt sei, könne offenbleiben, ob sich aus § 115 Abs. 6 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) eine anlassunabhängige Beratungspflicht ergeben habe. Dieser sozialrechtliche Herstellungsanspruch lasse nach einer entsprechenden Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X eine rückwirkende Leistungsgewährung für die vier Kalenderjahre vor dem Beginn des Jahres mit dem Rücknahmeantrag zu, so dass hiernach Leistungen ab dem 1. Januar 2012 zu gewähren seien.

Das SG hat in der Rechtsmittelbelehrung dieses Urteils ausgeführt, die Berufung sei für den Kläger binnen dreier Monate, für den Beklagten binnen eines Monats zu erheben. Das Urteil ist dem Beklagten am 28. August 2017 und dem in Deutschland ansässigen Prozessbevollmächtigten des Klägers am 30. August 2017 zugestellt worden.

Mit Ausführungsbescheid vom 4. Dezember 2017 hat der Beklagte dem Kläger eine Ausgleichsrente für die Zeit vom 1. Januar 2012 bis zum 29. Februar 2016 bewilligt. Es ergab sich eine Nachzahlung einschließlich Zinsen in Höhe von 11.491,00 Euro.

Der Kläger hat am 28. November 2017 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Er hält an seiner Ansicht fest, dass er ohne Verschulden an einer Antragstellung bis März 2016 gehindert gewesen sei. Der vom SG erwähnte Publizitätsgrundsatz könne ihm nicht entgegengehalten werden, da die geltende Gesetzeslage seinem Anspruch entgegengestanden habe. Die unverschuldete Unkenntnis sei weder bei Bekanntgabe des Urteils des EuGH noch durch den Hinweis des Beklagten im Bescheid vom 11. November 2009 weggefallen. Das Urteil sei zur Hinterbliebenenversorgung ergangen und habe noch übertragen werden müssen. Die Hinweise in dem Bescheid seien nicht sachgerecht und ausreichend gewesen. Insbesondere sei nicht mitgeteilt worden, welche Leistungen konkret in Betracht kämen. Irreführung liege auch darin, dass der nachfolgende Bescheid vom 30. März 2010 keine Hinweise enthalten habe. Der Vier-Jahres-Zeitraum des § 44 Abs. 4 SGB X sei nicht anwendbar, da § 60 Abs. 2 BVG diese Regelung verdränge und keine starren zeitlichen Grenzen setze. Die Berufung des Beklagten sei als Anschlussberufung weder zulässig noch begründet. Für ihre Zulässigkeit sei erforderlich, dass die selbstständige Berufung des Gegners zulässig sei und die Anschlussberufung den gleichen prozessualen Anspruch betreffe. Der Beklagte habe den entsprechenden Teil des ursprünglichen Streitgegenstandes mit Erlass des Ausführungsbescheides vom 4. Dezember 2017 bestandskräftig werden lassen. Seine Berufung beziehe sich nicht auf den Zeitraum der Anschlussberufung, weshalb hierfür kein Raum bestehe. Sie sei auch offensichtlich unbegründet, wie den Ausführungen des SG zu entnehmen sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 22. August 2017 aufzuheben, soweit die Klage abgewiesen worden ist, und unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2017 den Beklagten zu verpflichten, den Bescheid vom 13. April 2016 auch insoweit zurückzunehmen, als für den Zeitraum vom 1. Mai 2004 bis zum 31. Dezember 2011 Ausgleichrente und Ehegattenzuschlag versagt worden sind und den Beklagten zu verurteilen, ihm Ausgleichsrente und Ehegattenzuschlag für die Zeit vom 1. Mai 2004 bis zum 31. Dezember 2011 zu gewähren sowie die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 22. August 2017 insoweit aufzuheben, als er zur Gewährung von Ausgleichsrente für die Zeit vom 1. Januar 2012 bis zum 29. Februar 2016 verurteilt worden ist, und die Klage insoweit abzuweisen sowie die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er hat mit am 14. März 2018 beim LSG eingegangenem Schriftsatz Anschlussberufung eingelegt und trägt vor, dass der klägerische Berufungsantrag auf Gewährung eines Ehegattenzuschlags unzulässig sei, weil hierzu keine Verwaltungsentscheidung vorliege. Die Ausgleichsrente habe der Kläger erst mit Schreiben vom 2. März 2016 beantragt. Zeitlich vor diesem Datum sei der Kläger nicht unverschuldet an einer Antragstellung gehindert gewesen. Denn ihm wäre es bei Anwendung äußerster Sorgfalt möglich gewesen, vorsorglich bei der mit ihm in Kontakt stehenden Behörde nachzufragen, ob auf Grund des EU-Beitritts Polens eventuell weitere Ansprüche beständen und einen entsprechenden Antrag zu stellen. Der Hinweis auf eine erforderliche Antragstellung im Bescheid vom 11. November 2009 sei unmissverständlich und eindeutig gewesen. Eine Spontanberatungspflicht habe nicht bestanden. Hinsichtlich der Geltendmachung von Klageansprüchen über einen Zeitraum von vier Jahren hinaus, also vom 1. Mai 2004 bis zum 31. Dezember 2011, werde vorsorglich die Einrede der Verjährung erhoben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Zulassungsschranke des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG greift nicht ein, da der Kläger nach wie vor laufende Sozialleistungen für mehr als ein Jahr, nämlich noch für die Zeit von Mai 2004 bis Dezember 2011, begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist sie fristgerecht erhoben worden. Der Kläger hat zwar die Berufung dagegen erst am 28. November 2017 eingelegt, also nahezu drei Monate nach der Zustellung des Urteils. Dies reichte jedoch aus. Auf Seiten des Klägers galt zwar nicht die dreimonatige Frist aus § 153 Abs. 1 i.V.m. § 87 Abs. 1 Satz 2 SGG, wie es das SG angenommen hat (vgl. zur Anwendbarkeit dieser Normen im Berufungsverfahren Leitherer, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 151 Rz. 6). Denn das Urteil ist nicht im Ausland zugestellt worden und war auch nicht im Ausland zuzustellen, da sich der Kläger durch einen im Inland ansässigen Prozessbevollmächtigten hat vertreten lassen (Schmidt, a.a.O., § 87 Rz. 3). Aber aus diesem Grunde war die Rechtsmittelbelehrung des angegriffenen Urteils des SG insoweit falsch. Es galt daher eine Berufungsfrist von einem Jahr (§ 66 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die unselbstständige Anschlussberufung des Beklagten im Sinne des § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 524 Zivilprozessordnung (ZPO; vgl. zu den Voraussetzungen Leitherer, a.a.O., § 143 Rz. 5 ff.) – eine eigenständige Berufung wäre wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist des § 151 Abs. 1 SGG unzulässig – ist entgegen der Auffassung des Klägers zulässig. Gegenstand der Anschlussberufung ist mit dem Urteil des SG vom 22. August 2017 dieselbe Entscheidung, gegen die sich bereits die Berufung wendet. Betrifft die Entscheidung mehrere selbstständige Ansprüche, muss sich die Anschlussberufung grundsätzlich auf den gleichen prozessualen Anspruch wie die Hauptberufung des gegnerischen Beteiligten beziehen (vgl. BSG, Urteile vom 23. Juni 1998 - B 4 RA 33/97 R -, juris, Rz. 16 und vom 5. Mai 2010 - B 6 KA 6/09 R -, BSGE 106, 110, 112 f.). Mit ihr darf kein neuer Streitgegenstand in das Verfahren eingeführt werden (BSG, Urteil vom 10. Februar 2005 - B 4 RA 48/04 R -, juris, Rz. 33). Gleichwohl muss sie im Zusammenhang mit dem von der Hauptberufung erfassten Streitgegenstand über das Ziel der Zurückweisung der Hauptberufung hinausgehen. Eine Beschwer ist nicht erforderlich (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 1966 – 2 RU 103/65 -, BSGE 24, 247, 249). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, denn der Beklagte hat mit der Anschlussberufung die Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung verfolgt, soweit er verurteilt wurde, eine Ausgleichsrente auch vom 1. Januar 2012 bis 29. Februar 2016 zu gewähren. Die Anschlussberufung hat sich damit auf den Klageantrag bezogen, diese Leistungen wegen der Folgen des schädigenden Ereignisses vom 7. März 1946 bereits ab 1. Mai 2004 zu bewilligen, welcher diesen Zeitraum beinhaltet.

Der Beklagte regelte mit dem Ausführungsbescheid vom 4. Dezember 2017 kein Recht des Klägers auf Ausgleichsrente vom 1. Januar 2012 bis 29. Februar 2016, denn hiermit entsprach er nur der im Urteil des SG auferlegten Verpflichtung, ohne insoweit eine Konkretisierung vorzunehmen (vgl. BSG, Beschluss vom 18. September 2003 - B 9 V 82/02 B -, juris, Rz. 6 und Urteil vom 6. Mai 2010 - B 13 R 16/09 R -, SozR 4-1300 § 48 Nr. 19, Rz. 30 m.w.N.). Folglich wurde der Kläger insoweit nicht klaglos gestellt (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2017 - B 1 KR 2/17 R -, juris, Rz. 12).

Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist damit das gesamte Urteil des SG vom 22. August 2017, welches auf die als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 11. April 2013 - B 2 U 34/11 R -, SozR 4-2700 § 200 Nr. 4, Rz. 30 m.w.N. zur Zulässigkeit einer Kombination von solchen Klagen) erhobene Klage, mit welcher der Kläger unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2017 die Verpflichtung des Beklagten zur teilweisen Rücknahme des Bescheides vom 13. April 2016 und Gewährung von Ausgleichsrente und Ehegattenzuschlag vom 1. Mai 2004 bis 29. Februar 2016 verfolgt hat, ergangen ist.

Sowohl die Berufung des Klägers als auch die Anschlussberufung des Beklagten sind indes unbegründet.

Soweit der Kläger einen Ehegattenzuschlag begehrt, hat das SG die Klage zu Recht insoweit mangels Zulässigkeit abgewiesen, weil der Beklagte im Bescheid vom 13. April 2016, dessen teilweise Rücknahme streitgegenständlich ist, nur über die Ausgleichsrente entschieden hat. Eine Ablehnung des Ehegattenzuschlags lässt sich hingegen weder diesem Bescheid noch der Entscheidung hinsichtlich des Überprüfungsverfahrens mit Bescheid vom 12. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2017 entnehmen.

Im Übrigen hat das SG die Klage im Ergebnis zu Recht mangels Begründetheit abgewiesen, soweit ein Anspruch auf Ausgleichsrente im Zeitraum vom 1. Mai 2004 bis zum 31. Dezember 2011 betroffen ist. Für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 29. Februar 2016 hat es ihr zu Recht – in Form eines Urteils über den Grund nach § 130 Abs. 1 SGG – stattgegeben, so dass die Anschlussberufung des Beklagten unbegründet ist. Der Bescheid vom 12. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit er einen Anspruch auf teilweise Rücknahme des Bescheides vom 13. April 2016 und Gewährung der Ausgleichsrente vom 1. Januar 2012 bis zum 29. Februar 2016 hat.

Die Klage ist hinsichtlich der Ausgleichsrente zulässig. Insbesondere hat der Beklagte durch Verwaltungsakt über diese bereits ab 1. Mai 2004 entschieden. Dabei ist Maßstab der Auslegung der "Empfängerhorizont" verständiger Beteiligter, die die Zusammenhänge berücksichtigen, welche die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (§ 133 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat (vgl. BSG, Urteil vom 29. Januar 2008 - B 5a/5 R 20/06 R -, BSGE 100, 1, 2 m.w.N.). Der Kläger hatte in seinem am 2. März 2016 eingegangenen Schreiben ausdrücklich auf eine Ausgleichrente ab 2004 Bezug genommen. Verständige Beteiligte durften dann die Bewilligung ab 1. März 2016 unter Hinweis auf das Antragsprinzip dahingehend verstehen, dass ein Anspruch für die Zeit davor abgelehnt wurde. Diese Ablehnungsentscheidung konnte der Kläger zur Überprüfung nach § 44 SGB X stellen.

Das beklagte Land ist auch passivlegitimiert. Die Versorgung der Opfer des Krieges nach dem 1950 in Kraft getretenen BVG obliegt spätestens seit dem In-Kraft-Treten des SGG 1954 den Ländern und nicht dem Bund (BSG, Urteil vom 10. November 1955 - 8 RV 237/54 -, juris, Rz. 34). Die Kostenträgerschaft folgt dabei der Verwaltungszuständigkeit (Knickrehm, a.a.O., § 1 BVG Rz. 15). Dies folgt aus dem Grundsatz des Art. 104a Abs. 1 Grundgesetz (GG). Eine Ausnahme nach § 104a Abs. 3 Satz 1 GG, wonach Gesetze des Bundes über Geldleistungen bestimmen können, dass der Bund die sich daraus ergebenden Ausgaben trägt, ist im BVG nicht vorgesehen. Verwaltungszuständig für die Ausführung des BVG ist nach § 3 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) grundsätzlich jene Verwaltungsbehörde, in deren Bezirk der Berechtigte seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 30 Abs. 3 Satz 1 oder 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) innehat. Für Berechtigte mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereiches des GG bestimmt nach § 3 Abs. 5 KOVVfG das B. durch Rechtsverordnung, welche Verwaltungsbehörde zuständig und damit auch, welches Land der Kostenträger ist. Dies hat das B. mit der Verordnung über die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden der Kriegsopferversorgung für Berechtigte im Ausland (AuslZustV) i.d.F. vom 28. Mai 1991 (BGBl. I S. 1204) getan. Nach § 1 Buchstabe l AuslZustV sind dabei für Berechtigte in dem Teil Polens, der nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 zum Staatsgebiet des Deutschen Reiches gehört hatte (vgl. dazu auch Art. 116 Abs. 1 GG), wenn es sich um Beschädigte handelt, das Versorgungsamt M., wenn es sich um Witwen, Witwer oder Waisen handelt, das Versorgungsamt G., und, wenn es sich um Eltern handelt, das Versorgungsamt H. zuständig. Diese Regelung war für den Kläger nicht einschlägig, da sein – jetziger – Wohnort K. (K.) im so genannten Polnischen Korridor liegt, der bereits seit 1920 Teil der Republik Polen ist. Daher greift hier die Zuständigkeit des Versorgungsamts R. – und damit die Kostenträgerschaft Baden-Württembergs – nach § 1 Buchstabe o AuslZustV für das gesamte übrige europäische Ausland ein.

Die Klage ist für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 29. Februar 2016 insoweit auch begründet. Die Ablehnung der Rücknahme des Bescheides vom 13. April 2016 hinsichtlich der Gewährung der Ausgleichsrente für die Zeit vom 1. Januar 2012 bis zum 29. Februar 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat einen Anspruch auf Gewährung der Ausgleichsrente für diesen Zeitraum.

Grundlage in formeller Hinsicht hierfür ist der im Recht der Kriegsopferversorgung gemäß § 37 Satz 1 i.V.m. § 68 Nr. 7 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) anzuwendende § 44 SGB X. Soweit sich danach im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 44 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44 Abs. 4 Satz 2 SGB X). Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X). Ziel dieser Norm ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten letzterer aufzulösen (vgl. BSG, Urteil vom 4. Februar 1998 - B 9 V 16/96 R -, SozR 3 1300 § 44 Nr. 24).

In materieller Hinsicht steht dem Kläger dem Grunde nach ein Anspruch auf Ausgleichsrente zu, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist. Der Kläger ist als Deutscher (vgl. heute § 7 Abs. 1 Nr. 1 BVG) anspruchsberechtigt und als versorgungsberechtigtes Kriegsopfer im Sinne von § 1 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchstabe a BVG anerkannt, wobei in seinem Falle eine unmittelbare Kriegseinwirkung durch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG besteht. Sein Anspruch auf Ausgleichsrente folgt aus § 32 Abs. 1 BVG. Diese Leistung erhalten Schwerbeschädigte, also Beschädigte mit einem GdS von wenigstens 50, wenn sie infolge ihres Gesundheitszustands oder hohen Alters oder aus einem anderen von ihnen nicht zu vertretenden Grund eine zumutbare Erwerbstätigkeit nicht oder nur in beschränktem Umfang oder nur mit überdurchschnittlichem Kräfteaufwand ausüben können. Der Kläger ist auf Grund des Bescheides vom 21. September 1998 seit dem 1. November 1996 schwerbeschädigt mit einem GdS von 70. Seit dem 1. August 1996 ist er wegen hohen Alters nicht mehr erwerbsfähig im Sinne einer Ausgleichsrente (vgl. zu dieser Altersgrenze Nr. 3 der Verwaltungsvorschrift zu § 32 BVG [BVGVwV], zitiert nach Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 32 BVG vor Rz. 1).

Dieser Anspruch des Klägers auf die einkommensabhängige Leistung einer Ausgleichsrente war seit dem 1. Mai 2004 nicht mehr ausgeschlossen. Zwar hatten seine Ansprüche auf solche Teile der Versorgung, die nicht in § 64e Abs. 2 und 3 BVG genannt waren, nach § 64e Abs. 1 Satz 2 BVG geruht, weil er in Polen lebte, also einem der Länder Osteuropas, die in der nach § 64e Abs. 5 BVG vorgesehenen AuslVersV genannt waren. Diese Vorschriften galten zwar formal bis zu ihrer Aufhebung am 1. Juli 2011. Sie waren jedoch schon zuvor europarechtswidrig, wie auf Grund des Urteils des EuGH vom 4. Dezember 2008 feststeht. Dies galt im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur Republik Polen seit dem 1. Mai 2004, dem Wirksamwerden des Beitritts Polens zur Europäischen Union. Ab diesem Zeitpunkt griff der Anwendungsvorrang des europäischen Primärrechts, der dazu zwingt, dass entgegenstehendes Recht des Mitgliedsstaats außer Anwendung zu bleiben hat (EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963 - 26/62 -, juris, S. 24 ff. [Van Gend & Loos]). Die Ausnahmen von diesem Anwendungsvorrang europäischen Primärrechts, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in dem zu den Verträgen niedergelegten Integrationsprogrammen (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG) und in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen der Art. 1 und 20 GG liegen (BVerfG, Urteil vom 21. Juni 2016 - 2 BvE 13/13 -, juris, Rz. 115), sind hier ersichtlich nicht betroffen. Bereits ab dem 1. Mai 2004 hätten also deutsche Sozialgerichte § 64e Abs. 1 Satz 2 BVG und § 1 AuslVersV zu Lasten des Klägers nicht mehr anwenden dürfen.

Der Beklagte konnte die beantragte Leistung auch nicht mit der Begründung verweigern, der Kläger habe sie erstmals am 2. März 2016 beantragt.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen vorliegen, frühestens aber mit dem Antragsmonat. Dies gilt nach § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 BVG entsprechend, wenn eine höhere Leistung begehrt wird. Eine solche ist auch dann Gegenstand eines Antrags, wenn die Gewährung einer zusätzlichen, bislang nicht bezogenen Einzelleistung aus dem Versorgungsrecht begehrt wird (BVGVwV Nr. 2 zu § 60). Dies entspricht der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach verschiedenartige Versorgungsleistungen gesondert beantragt werden müssen (vgl. BSG, Urteil vom 29. Mai 1980 - 9 RV 18/79 -, juris, Rz. 17).

Diese mögliche Ausschlussregelung hinsichtlich bestehender Ansprüche ist nicht europarechtswidrig. Das nationale Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten darf nach dem europarechtlich anerkannten Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip lediglich für die Menschen anderer Staaten nicht ungünstiger sein als für diejenigen des gewährenden Staates selbst (EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006 - C-295/04 bis 298/04 -, juris, Rz. 76 ff. [Manfredi u. a.]) und nicht geeignet sein, die mit der Ausübung der durch die Rechtsordnung der Europäischen Union verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (EuGH, Urteil vom 11. Juli 2002 - C- 62/00 -, juris, Rz. 34 [Marks & Spencer]). Diese Einwände bestehen gegen § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG nicht. Die Norm gilt gleichermaßen für Inländer wie für im Ausland lebende Berechtigte. Sie macht die Ausübung der Rechte nicht unmöglich, vielmehr ist ein Antragserfordernis gerade bei den einkommensabhängigen Leistungen nach dem BVG sogar gerechtfertigt, da im Verwaltungsverfahren Ermittlungen zur Situation der Betroffenen erforderlich sind. In seinem Urteil vom 4. Dezember 2008 hat der EuGH darauf hingewiesen, dass die Notwendigkeit, eine hinreichende Kontrolle der beruflichen und sozialen Situation der Berechtigten zu ermöglichen, eine objektive Erwägung des Allgemeininteresses darstellt, die es rechtfertigen können, dass die Freizügigkeit durch die Voraussetzungen oder die Modalitäten für die Zahlung von Leistungen berührt werden kann. Nur einen vollständigen Ausschluss der Leistungen wie nach dem früheren § 64e Abs. 1 Satz 2 BVG hat der EuGH für unverhältnismäßig gehalten (C-221/07, juris, Rz. 39 und 47).

Das Antragsprinzip in § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG ist jedoch sinnvoll und nicht schematisch zu handhaben (BSG, Urteil vom 28. Oktober 1975 - 9 RV 458/74 -, juris, Rz. 17). Maßgebend ist nicht die Ausdrucksweise, sondern der unter Berücksichtigung aller Umstände erkennbare Wille des Antragstellers. Das Begehren ist als auf alle nach Lage des Falles in Betracht kommenden Leistungen gerichtet anzusehen (BSG, Urteil vom 29. Mai 1980 - 9 RV 18/79 -, juris, Rz. 17). Dies ergibt sich auch aus § 6 KOVVfG und insbesondere aus Nr. 1 der Verwaltungsvorschrift zu § 6 KOVVfG (KOVVfGVwV). Danach ist ein – möglicher – Antrag nicht in erster Linie nach § 157 BGB aus der Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers auszulegen, im Vordergrund steht vielmehr der "recht verstandene Wille" des Antragstellers nach § 133 BGB (so auch Knörr, in: Knickrehm, a.a.O., § 60 BVG Rz. 5).

Nach § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG beginnt eine beantragte höhere Leistung, wenn der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung gehindert war, mit dem Monat, von dem an die Verhinderung nachgewiesen ist, wenn der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes gestellt worden ist. Diese Vorschrift entspricht in ihrem Anwendungsbereich den Regelungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung einer (allgemeinen) gesetzlichen Frist in § 27 Abs. 1 SGB X (Knörr, a.a.O., § 60 BVG Rz. 7). Bei der Frage, ob die Verzögerung der Antragstellung auf einem Verschulden des Antragstellers (oder seines gesetzlichen Vertreters) beruht, ist anders als im allgemeinen Zivilrecht kein objektiver Maßstab (vgl. § 276 Abs. 1 BGB) heranzuziehen. Es gilt vielmehr ein subjektiver, auf den individuellen Antragsteller bezogener Maßstab. Nach den ausdrücklichen Regelungen in der BVGVwV Nr. 3 zu § 60 i.V.m. Nr. 2 zu § 18 sind hierbei unter anderem der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit zu berücksichtigen. Rechtsunkenntnis an sich schließt ein Verschulden in diesem Rahmen nicht zwingend aus (BSG, Urteil vom 30. September 2009 - B 9 VG 3/08 R -, juris, Rz. 30). Die Verwaltung darf nach der ständigen Rechtsprechung auch der Sozialgerichte davon ausgehen, dass jedem Bürger gesetzliche Bestimmungen nach ihrer Veröffentlichung bekannt sind. Insoweit gilt der Publizitätsgrundsatz. Im Übrigen bestehen im Sozialrecht für den Bürger vielfältige Möglichkeiten, sich über seine sozialen Rechte zu informieren (vgl. §§ 13 ff. SGB I). Auch die Medien weisen zudem regelmäßig auf den Inhalt neuer Gesetze hin (BSG, Urteil vom 15. August 2000 - B 9 VG 1/99 R , juris, Rz. 13). Dabei reicht der Umstand, dass eine betreffende Person rechtsunkundig ist und aus einem fremden Sprach- und Kulturkreis stammt, für die Annahme höherer Gewalt als Entschuldigungsgrund für die Versäumung einer Frist nicht aus (BSG, Urteil vom 16. März 2016 - B 9 V 6/15 R -, juris, Rz. 22). Die Forderung an einen Ausländer, der mit den einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften nicht vertraut ist, sich zu erkundigen, verlangt dem Betroffenen auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts Unzumutbares ab (BVerfG, Beschluss vom 22. Januar 1999 - 2 BvR 729/96 -, juris, Rz. 36).

Hiernach kann dem Kläger nicht pauschal entgegengehalten werden, er habe auf Grund des Publizitätsgrundsatzes ab dem 1. Mai 2004 oder spätestens aufgrund des Bescheides vom 11. November 2009 wissen müssen, dass er nunmehr auch einkommensabhängige Leistungen beantragen konnte.

Der Senat lässt dabei offen, ob der Publizitätsgrundsatz überhaupt für Berechtigte im Ausland gilt. Die bisherige Rechtsprechung des BVerfG und BSG hat den Publizitätsgrundsatz immer nur auf Personen angewandt, die, soweit aus den veröffentlichten Entscheidungen ersichtlich, im Inland wohnhaft waren. Die ausländische Familie, mit der sich das Urteil des BSG vom 16. März 2016 im Verfahren B 9 V 6/15 R befasste, hatte bereits seit mehreren Jahren in der BRD gelebt und war in laufendem Kontakt mit deutschen Behörden, weswegen eine Obliegenheit zur Erkundigung angenommen wurde. Bereits zuvor wurde höchstrichterlich ausdrücklich auf die "Publizität im Inland" abgestellt, etwa nach der deutschen Wiedervereinigung auf die Kenntnis der Bevölkerung über sozialrechtliche Ansprüche im Beitrittsgebiet (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 2000 - B 9 VG 1/99 R -, juris, Rz. 13). Der Kläger hat nie im Inland gelebt. Allenfalls wegen ihres laufenden Leistungsbezugs konnte von ihr verlangt werden, sich über Rechtsänderungen in der BRD fortlaufend zu informieren, aber dann müssten die Fälle einer erstmaligen Beantragung (§ 60 Abs. 1 Satz 3 BVG) und eines Antrags auf höhere Leistungen (§ 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG) unterschiedlich behandelt werden. Für eine solche Differenzierung bieten diese beiden Normenkomplexe indes keine ausreichenden Anhaltspunkte.

Jedenfalls im Falle des Klägers schließt der Publizitätsgrundsatz eine unverschuldete Rechtsunkenntnis nicht aus.

Dies gilt offenkundig für die Zeit bis zur Verkündung des Urteils des EuGH am 4. Dezember 2008. Hätte sich der Kläger, den beschriebenen Obliegenheiten folgend, beim Beklagten oder bei einer anderen rechtskundigen Stelle im In- oder Ausland erkundigt, hätte er die – damals formal zutreffende – Antwort erhalten, dass er keine Ansprüche habe.

Aber auch ab der Bekanntgabe des EuGH-Urteils kann die Rechtsunkenntnis des Klägers nicht als schuldhaft angesehen werden. Es ist bereits zweifelhaft, dass in polnischen Medien gleichermaßen wie in Deutschland über dieses Urteil berichtet wurde, und selbst wenn, dürften die Auswirkungen auf die Versorgungsansprüche gegenüber dem deutschen Staat in Polen allenfalls in Fachzeitschriften erörtert worden sein. Unabhängig davon bezieht sich der Publizitätsgrundsatz auf erlassene Rechtsnormen, nicht ohne Weiteres auf verkündete Gerichtsentscheidungen. Hier kam hinzu, dass § 64e Abs. 1 Satz 2 BVG, der den Ansprüchen des Klägers entgegenstand, nicht für nichtig erklärt worden ist, denn eine solche Entscheidungskompetenz kommt dem EuGH nicht zu. In Fällen wie hier obliegt es dem Mitgliedstaat, die europarechtswidrige Norm aufzuheben. Es kann von einem Bürger generell nicht verlangt werden, sich in den Feinheiten europäischen Rechts auszukennen und zu wissen, dass und ab wann die Gerichte eines Mitgliedsstaats auf Grund des Anwendungsvorrangs europäischen Primärrechts eine ihm ungünstige Norm nicht mehr anwenden werden. Hinzu kommt, dass das Urteil des EuGH eine Hinterbliebenenversorgung betraf und die dortige Berechtigte erst während des Leistungsbezugs von Deutschland nach Polen umgezogen war. Ausgehend davon, dass § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG einen subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstab begründet, konnte daher von dem Kläger nicht erwartet werden, bereits vor dem B. und dem Beklagten die Bedeutung dieses Urteils für sich zu erkennen und entsprechende Anträge zu stellen.

Auch die Aufhebung des § 64e BVG zum 1. Juli 2011 hat die unverschuldete Rechtsunkenntnis nicht beseitigt. Formal greift hier zwar der Publizitätsgrundsatz ein, da es um die Änderung einer gesetzlichen Vorschrift ging. Ob dies generell für Berechtigte im Ausland gilt, lässt der Senat auch hier dahinstehen. Im Falle des Klägers beendete diese Gesetzesänderung die unverschuldete Rechtskenntnis nicht. Es handelte sich um ein bloßes Aufhebungsgesetz. Welche Bedeutung die Aufhebung einer bislang anspruchshindernden Norm für den Anspruch selbst hat, der selbst nicht verändert wird, kann auch ein Bürger nicht ohne Weiteres erkennen. Insoweit treffen nach einer solchen Gesetzesänderung die zuständigen Sozialleistungsträger erhöhte Obliegenheiten zur Information und zu Hinweisen.

Auch im Einzelfall ist der Hinderungsgrund im Sinne des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG, die unverschuldete Rechtsunkenntnis des Klägers, nicht vor der Antragstellung weggefallen. Insbesondere hat der Beklagte ihn nicht ausreichend über die Veränderungen in der Rechtslage nach der Verkündung des Urteils des EuGH oder später nach der Aufhebung des § 64e BVG unterrichtet. In diesem Punkt kann der Senat den Erwägungen des SG in dem angegriffenen Urteil nicht beitreten.

Wie bereits ausgeführt, traf die Versorgungsverwaltung nach der Verkündung des EuGH-Urteils und ggf. erneut nach der Aufhebung des § 64e BVG die Obliegenheit, ohne konkrete Nachfrage Berechtigter, also im Sinne einer Spontanberatung, die Versorgungsberechtigten im Ausland zu informieren. Behördliche Informationen sind nach § 14 Satz 1 SGB I "spezifisch" und auch für den Laien verständlich zu erteilen (BSG, Urteil vom 1. April 2004 - B 7 AL 52/03 R -, juris, Rz. 11). Dies gilt insbesondere im grenzüberschreitenden europäischen Verwaltungsverkehr. So bestimmt Art. 76 Abs. 4 Unterabsatz 2 der (allerdings erst nach Erlass des Bescheides vom 11. November 2009 in Kraft getretenen) Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, dass "gemäß dem Grundsatz der guten Verwaltungspraxis" die Behörden des einen Mitgliedsstaats dem Betroffenen, der in einem anderen Mitgliedsstaat wohnt, unter anderem alle erforderlichen Angaben zu übermitteln haben, damit jener seine durch die Verordnung eingeräumten Rechte – darunter jenes auf Antragstellung – ausüben kann. Zwar muss eine Behörde auch auf Grund dieser europarechtlichen Vorgabe im grenzüberschreitenden Verkehr ihre Hinweise grundsätzlich nicht in die Landessprache des Zielstaats übersetzen. Aber die Hinweise sollten zumindest nicht noch technischer und unverständlicher sein als im Verkehr mit Betroffenen im Inland, die der deutschen Sprache ausreichend mächtig sind. Diese Obliegenheit des Beklagten zur verständlichen Information ergab sich auch aus dem Rundschreiben des B. vom 17. Juni 2009. Darin war sogar gefordert worden, dass "mögliche Berechtigte zur Stellung von Anträgen aufgefordert" werden sollten.

Der Beklagte hat den Kläger ein einziges Mal informiert, und zwar nur in dem Änderungsbescheid vom 11. November 2009. Dort findet sich der Hinweis, "entsprechende einkommensabhängige Leistungen" seien "zu beantragen". Dieser Hinweis genügt nach Ansicht des Senats den beschriebenen Anforderungen an Verständlichkeit gerade im grenzüberschreitenden Verkehr nicht und auch nicht den Vorgaben aus dem Rundschreiben des B. vom 17. November 2009. Er war ohne Zusammenhang zu dem restlichen Text auf der ersten Seite unten untergebracht, in dem Bereich, in dem ansonsten die Zahlungsmodalitäten geregelt waren, also an unerwarteter Stelle, und nicht etwa in dem Abschnitt "Hinweise", in der er systematischerweise gehört hätte. Eine Zeile davor hatte der Beklagte noch darauf hingewiesen, er werde über die weiteren einkommensunabhängigen Leistungen noch von Amts wegen entscheiden. Dieser kleine Unterschied in den Begriffen war leicht zu überlesen. Vor allem aber war nicht erkennbar, was mit der Aussage, es sei ein Antrag zu stellen, gemeint war. Es fehlte jeder Hinweis auf die nach § 60 Abs. 2 BVG drohenden Rechtsverluste, also ein Hinweis darauf, dass einkommensabhängige Leistungen erst ab einer Antragstellung bewilligt werden könnten. Nach Ansicht des Senats hätte der Beklagte die nunmehr möglicherweise zustehenden Leistungen, also vor allem die Ausgleichsrente, deutlich benennen müssen. Geht man von dem erwähnten B.-Rundschreiben aus, so musste er die Berechtigten sogar direkt zur Antragstellung auffordern. Er hätte z.B. zumindest den Fragebogen zur Einkommenssituation und zum Familienstand beifügen können, wie er es – dies ist dem Senat aus mehreren der Parallelverfahren bekannt – gegenüber anderen Versorgungsberechtigten in Polen auch getan hat. Die Rückkehr dieses ausgefüllten Fragebogens hätte er dann als Antrag auf einkommensabhängige Leistungen werten müssen. Die weiteren Ausführungen in dem Bescheid vom 11. November 2009 klärten die Lage ebenfalls nicht. Das EuGH-Urteil, das Auslöser der Neuberechnung war, hatte der Beklagte in dem Bescheid vom 11. November 2009 nicht genannt, stattdessen eine "geänderte Rechtsauffassung". Dem Kläger war es daher nicht möglich, herauszufinden, was genau diese geänderte Rechtsauffassung betraf und welche Folgen daraus zu ziehen waren. Unerheblich ist an dieser Stelle allerdings, dass das Schreiben auf Deutsch verfasst war. Aus der Korrespondenz zwischen den Beteiligten seit Mitte der 1990er Jahre ist erkennbar, dass der Kläger ausreichend Deutsch sprach bzw. sich der Hilfe deutschsprachiger Bekannter oder Verwandter bedienen konnte. Unabhängig hiervon ist die Amtssprache nach § 19 Abs. 1 SGB X Deutsch. Als Ausnahme hiervon bestimmt Art. 76 Abs. 7 der VO Nr. 883/2004 lediglich, dass die Behörden eines Mitgliedsstaats im grenzüberschreitenden Verkehr Schriftstücke in einer der anderen Amtssprachen der EU nicht zurückweisen dürfen.

Auch ansonsten hat der Beklagte keine Hinweise erteilt, die den Anforderungen an die geschuldete Beratung genügt hätten. Die Formulierung in dem Bescheid vom 30. März 2010, nach dem Urteil des EuGH seien "die Regelungen der Inlandsversorgung anzuwenden", war ersichtlich zu unbestimmt, um als Hinweis auf eine notwendige Antragstellung aufgefasst werden zu können.

Vor diesem Hintergrund geht der Senat davon aus, dass der Hinderungsgrund der unverschuldeten Rechtsunkenntnis des Klägers erst kurz vor seinem Antrag vom 2. März 2016 weggefallen ist, eventuell durch entsprechende Informationen seines Prozessbevollmächtigten. Dann aber konnte sein Antrag die sechsmonatige Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG wahren, sodass der Antrag rückwirkend die gesamten Ansprüche grundsätzlich seit Mai 2004 erfasst hat.

Der Anspruch des Klägers ist aber nach § 44 Abs. 4 SGB X – bezogen auf die Zeit mehr als vier Kalenderjahre vor dem Jahr der Antragstellung, also für die Zeit bis zum 31. Dezember 2011 – erloschen.

Ob § 44 Abs. 4 SGB X in den Fällen des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG angewendet werden kann, war in der früheren Rechtsprechung der Sozialgerichte umstritten (vgl. die Nachweise bei LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27. Januar 2005 - L 13 VG 5/03 -, juris, Rz. 33). Inzwischen hat das BSG jedoch insoweit entschieden, dass es sich bei dieser Bestimmung um eine spezielle Regelung des Beginns höherer Leistungen handelt, der ein von § 48 Abs. 4 i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X deutlich abweichendes Konzept zugrunde liegt. Während § 44 Abs. 4 SGB X einer nachträglichen Leistungserbringung – ohne weitere Voraussetzungen – eine strikte zeitliche Grenze setzt, stellt § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BVG – ähnlich den Vorschriften über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. § 27 SGB X, § 67 SGG) – auf die individuellen Verhältnisse des Betroffenen ab (BSG, Urteil vom 2. Oktober 2008 - B 9 VH 1/07 R -, juris, Rz. 61). Dieser Entscheidung des BSG liegt allerdings ein Sachverhalt zugrunde, in dem auf Antrag des Beschädigten nicht nur ein Überprüfungsbegehren nach § 44 SGB X streitgegenständlich, sondern der Antrag auch als Neufeststellungsbegehren im Sinne des § 48 SGB X auszulegen war (BSG, a.a.O., Rz. 59). Nur im Rahmen der wesentlichen Änderung der Verhältnisse nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X hat das BSG § 60 Abs. 2 BVG einen entsprechenden Vorrang zuerkannt, obwohl § 44 Abs. 4 SGB X durch die Vorschrift des § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X an sich entsprechend anwendbar ist (BSG, a.a.O., Rz. 61).

Bei direkter Anwendung in einem Zugunstenverfahren wird § 44 Abs. 4 SGB X jedoch nicht verdrängt (Bayerisches LSG, Urteil vom 28. Juni 2017 - L 15 VG 16/11 -, juris, Rz. 41; Urteil des Senats vom 7. Dezember 2017 - L 6 VG 1336/17 -, nicht veröffentlicht; vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 13. Februar 2008 - L 5 V 15/05 -, Rz. 26). Denn § 60 BVG regelt den Beginn der Leistungen der Beschädigtenversorgung bei einem Erstantrag. Vorliegend handelt es sich jedoch um eine nachträgliche Antragstellung bezüglich eines neuen Leistungsbeginns. Den Erstantrag im Sinne von § 60 BVG hat der Kläger vorliegend mit dem am 2. März 2016 beim Beklagten eingegangenen Schreiben gestellt, in dem er ausgeführt hatte, dass ein guter Bekannter, der Jurist sei, ihm geraten habe, dass ihm durch die Europäische Union eine Ausgleichsrente ab 2004 zustehe. Über diesen Antrag ist wie ausgeführt mit Bescheid vom 13. April 2016 entschieden worden und dieser ist in Bestandskraft erwachsen (§ 77 SGG). Der Antrag vom 2. März 2016 ist damit "verbraucht" und maßgeblich ist allein der neue Antrag (auf Überprüfung) vom 8. Dezember 2016 (vgl. Bayerisches LSG, a.a.O., Rz. 47). Da dieser gerade kein Erstantrag ist, kann § 60 BVG auf ihn auch keine Anwendung mehr finden, so dass eine Verdrängung des § 44 Abs. 4 SGB X in diesem Fall ausscheidet.

Aus diesen Gründen waren sowohl die Berufung des Klägers als auch die Anschlussberufung des Beklagten jeweils mangels Begründetheit zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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