Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
13
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 20 Kg 26/93
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 Kg 2/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 BKg 11/97
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 27. November 1995 wird zurückgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Kindergeld für ihren am 00.00.1965 geborenen Sohn U über dessen 27. Lebensjahr hinaus.
U lebte bis 1984 in der DDR. Er war in der Zeit von März bis November 1984 inhaftiert. Durch die Inhaftierung ist er an einem sogenannten "Stasi-Verfolgten-Syndrom" erkrankt. Wegen dieser Erkrankung erhält U eine Entschädigungsrente nach dem Häftlingshilfegesetz nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H ... Unmittelbar nach der Haft übersiedelte U in die Bundesrepublik Deutschland und besuchte bis Juni 1988 ein Gymnasium. Nach erfolgreicher Abiturprüfung nahm er im Oktober 1988 das Studium der Rechtswissenschaften auf, das er noch nicht abgeschlossen hat.
Auf ihren Antrag vom 27. Oktober 1985 erhielt die Klägerin seit September 1985 Kindergeld und seit 1988 Kindergeldzuschlag. Mit Bescheid vom 08. Mai 1992 hob die Beklagte die Bewilligung von Kindergeld und Kindergeldzuschlag ab Juli 1992 mit der Begründung auf, daß U am 12.06.1992 sein 27. Lebensjahr vollende. Gegen diese Entscheidung erhob die Klägerin Widerspruch, der mit Bescheid vom 02. September 1993 zurückgewiesen wurde. Hiergegen erhob sie Klage vor dem Sozialgericht Köln.
Das Sozialgericht hat ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. Q eingeholt, der U schon anläßlich der Anerkennung der Schädigungsfolgen nach dem Häftlingshilfegesetz untersucht hatte. Dr. Q führte in seinem Gutachten aus, daß U zwar leistungsgemindert sei, aber noch leichte Arbeiten vollschichtig verrichten könne. Eine regelhafte Beschränkung der täglichen Arbeitszeit sei nicht sinnvoll und auch nicht erforderlich. Wünschenswert sei eine Anpassungsmöglichkeit in flexibler Form.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 27. November 1995 abgewiesen. Eine Verlängerung des Bezugszeitraums komme nicht in Betracht, da U die im Gesetz aufgeführten Verlängerungstatbestände nicht erfülle und die dortige Aufzählung abschließend sei. Auch die Gewährung von Kindergeld ohne zeitliche Begrenzung komme nicht in Betracht, weil der Kläger nicht erwerbsunfähig im Sinne des sozialen Rentenrechts sei. U sei von daher auch in der Lage, sich selbst zu unterhalten.
Gegen das ihr am 04. Januar 1996 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 10. Januar 1996 Berufung eingelegt. Die Klägerin meint, aus dem Gutachten von Dr. Q könne sich nicht ableiten lassen, daß U sich selbst unterhalten könne. Jedenfalls die Zeit seiner politischen Haft in der DDR müsse als Verlängerungstatbestand für den Bezugszeitraum von Kindergeld anerkannt werden. Daß U keinen Wehrdienst abgeleistet habe, könne ihm nicht zur Last gelegt werden. Dies habe gesundheitliche Gründe gehabt, die allein auf die Umstände der politischen Haft zurückzuführen seien. Ihr Sohn könne sich nicht selbst versorgen. Wenn sie nicht alles von ihm fernhalte, könnte er auch nicht studieren.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 27.11.1995 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.05.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.09.1993 zu verurteilen, auch für die Zeit vom Juli 1992 bis Februar 1993 Kindergeld für den Sohn U zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend: Es liege weder ein Verlängerungstatbestand vor, noch könne für U Kindergeld weiter gewährt werden, da er vor Vollendung seines 27. Lebensjahres nicht erwerbsunfähig gewesen sei.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Dr. W. In seinem Gutachten vom 30. September 1996 beschreibt Dr. W U als erheblich psychisch fehlentwickelt. Er könne aber an diesen Zustand angepaßte Tätigkeiten noch vollschichtig verrichten. Hierzu gehörten z. B. Büro- und Verwaltungstätigkeiten. Für Tätigkeiten mit gehäuftem Publikumsverkehr sowie Leitungs- oder Führungstätigkeiten jeglicher Art sei er nicht geeignet. Dies könne sich jedoch nach erfolgreicher Durchführung einer Therapie, zu der dringend geraten werde, ändern. Der zur Zeit vorliegende Zustand bestehe schon seit 1992. Mit dem insoweit verbliebenen Restleistungsvermögen könne der Kläger noch regelmäßig leichte Arbeiten vollschichtig verrichten.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozeßakten sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten und den Inhalt der Verfahrensakten des Sozialgerichts Köln S 15 V 477/90, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ihr Klagebegehren beschränkt. Sie verlangt nunmehr nur noch die Verlängerung des Bezugszeitraums von Kindergeld über das 27. Lebensjahr des Kindes hinaus für die Zeit der in der DDR erlittenen politischen Haft im Umfang von 8 Monaten (Juli 1992 bis Februar 1993). Der eingeschränkte Klageantrag in der Berufung ist so auszulegen, daß die Klage im übrigen zurückgenommen worden ist. Im Streit steht damit nurmehr der Kindergeldbezug von Juli 1992 bis Februar 1993.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet.
Für eine Entscheidung über Kindergeldbezugszeiträume bis einschließlich Dezember 1995 ist die Sozialgerichtsbarkeit zuständig. Ansprüche für diese Zeiträume sind nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) in seiner bis zum 31.12.1995 geltenden Fassung zu entscheiden (L 13 S Kg 5797 Beschluss vom 25.02.1997 LSG NW).
Zu Recht hat das Sozialgericht die Weiterbewilligung von Kindergeld für den Sohn U der Klägerin abgelehnt. Ab Juli 1992 hat sie keinen Anspruch mehr auf Kindergeld. U hatte im Juni 1992 das 27. Lebensjahr vollendet. Die Voraussetzungen für eine Verlängerung des Bezugszeitraumes oder der Bewilligung von Kindergeld ohne zeitliche Begrenzung liegen nicht vor. Damit ist im Juni 1992 eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, die die Beklagte gemäß § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch, (SGB X) berechtigt, die Kindergeldzahlung einzustellen.
Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 3 Satz 1 BKGG werden Kinder nur berücksichtigt, wenn sie noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet haben. Daraus ergibt sich, daß der Bezugszeitraum für Kindergeld regelmäßig jedenfalls dann endet, wenn das Kind das 27. Lebensjahr vollendet hat, auch wenn es sich noch in der Ausbildung befindet oder andere in § 2 Abs. 2 genannte Kriterien eingreifen, die die Bezugsdauer über das 16. Lebensjahr hinaus verlängert.
Ausnahmsweise wird diese Höchstbezugsdauer über das 27. Lebensjahr hinaus gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 BKGG verlängert, wenn eine der in den Nrn. 1 bis 3 genannten Voraussetzungen vorliegt. Das ist für den Sohn U der Klägerin nicht der Fall. Seit dem Bestehen seiner Abiturprüfung studiert U Rechtswissenschaften und ist bisher nicht zu einem Abschluß gekommen. Einen der in den Nrn. 1 bis 3 genannten Dienste hat U nicht absolviert.
Der Umstand seiner Inhaftierung in der damals noch existierenden DDR ist kein Sachverhalt, der eine Verlängerung des Bezugszeitraumes für Kindergeld bewirken kann. Andere, als die in § 2 Abs. 3 BKGG genannten Gründe vermögen den Bezugszeitraum für Kindergeld nicht zu verlängern (vgl. Wickenhagen/krebs § 2, Rdnr. 236). Denn der dort aufgeführte Katalog ist abschließend.
Der Umstand der Behinderung ihres Sohnes, der möglicherweise den Abschluß der Ausbildung verzögert, berechtigt nicht zu einem verlängerten Kindergeldbezug (vgl. BSG vom 14.06.1984 10 RKg 13/83 = SozR 5870 § 2 Nr. 34). Dies gilt auch dann, wenn und soweit die Behinderung von U für die Nichtableistung eines in den Nrn. 1 bis 3 genannten Dienstes kausal gewesen sein sollte. Die Wertung der in § 2 Abs. 3 BKGG genannten Verlängerungstatbestände ist eine völlig andere, als die Klägerin sich dies vorzustellen scheint. Das Gesetz will hier keinen Ausgleich schaffen für im Leben erlittene Schicksalsschläge. Vielmehr soll lediglich eine Priveligierung für einen bestimmten, abschließend benannten, Personenkreis erfolgen, der sich gegenüber dem Staat für bestimmte Zeiten dienstverpflichtet hat oder als Entwicklungshelfer tätig war.
Hierin vermag der Senat auch keine spezifische Ungleichbehandlung der Klägerin oder ihres Sohnes zu erkennen. Für die in der DDR erlittene Haft wird der Sohn der Klägerin, wie alle Betroffenen, über das Häftlingshilfegesetz entschädigt. In Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) erhält er u.a. eine Rente nach einer MdE um 50 v.H ... Daneben hat er Anspruch auf die im BVG aufgeführten zusätzlichen Leistungen. Eine darüber hinausgehende Entschädigung auch im Rahmen des Kindergeldbezuges, sieht das Gesetz, wie auch bei anderen Leistungsberechtigten, die gegenüber dem Staat ein Sonderopfer erlitten haben, nicht vor. Der Sohn der Klägerin wird also genauso behandelt, wie andere Betroffene, die im Rahmen einer Sonderopferentschädigung Leistungen vom Staat erhalten. Auch für diese Personengruppe enthält § 2 Abs. 3 keine besonderen Priveligierungstatbestände.
Auch der Tatbestand für eine Kindergeldgewährung ohne zeitliche Begrenzung gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG liegt nicht vor. Denn der Sohn der Klägerin ist trotz seiner Behinderung nicht außerstande, sich selbst zu unterhalten. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG liegen vor, wenn das Kind, für das Kindergeld bezogen wird, vor Vollendung des 27. Lebensjahres erwerbsunfähig im Sinne des Sozialgesetzbuches, 6. Buch, SGB VI war. Eine zeitliche Zuordnung des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit ist dem Gesetz zwar nicht unmittelbar zu entnehmen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (BSG SozR 5870 § 2 Nr. 35 m. N.), der sich der Senat angeschlossen hat (vgl. L 13 Kg 28/93 LSG NW vom 26.04.1996), muß jedoch die die Selbstversorgung ausschließende Gesundheitsbeeinträchtigung vor Vollendung des 27. Lebensjahres entstanden sein, um die regelmäßige Höchstbezugsdauer außer Kraft zu setzen.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, daß U vor Vollendung seines 27. Lebensjahres nicht erwerbsunfähig im Sinne des § 44 SGB VI war.
Erwerbsunfähig im Sinne dieser Vorschrift ist, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße übersteigt.
Der Sohn der Klägerin ist nicht erwerbsunfähig, denn er kann noch leichte Arbeiten vollschichtig verrichten. Dies trifft auch auf die Zeit vor der Vollendung seines 27. Lebensjahres zu.
Soweit das Restleistungsvermögen eines Berechtigten noch ausreicht, leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, liegt, abgesehen von Ausnahmefällen, die durch die Rechtsprechung in einem abschließenden Katalog aufgezählt worden sind, keine Erwerbsunfähigkeit vor (ständige Rechtsprechung des BSG: vom 25.01.1994, 4 RA 35/93; 23.03.1993, 4 BA 121792; vom 14.09.1995, 5 RJ 28/95 mit Abkürzung zu 13 Rj 19/93 vom 23.11.1994; vom 12.06.1996, 5 Rj 94/95 und 65 RJ 108/95; vom 17.07.1996 5 RJ 70/95; vgl. auch Kasseler Kommentar/Niesel § 43 SGB Vi Rdnr. 82 ff.). Der Sohn der Klägerin wird zwar durch die Folgen der von ihm erlittenen politischen Haft in seinem Leistungsvermögen eingeschränkt. Sein verbliebenes Restleistungsvermögen reicht jedoch aus, leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten. Insbesondere ist er noch in der Lage, leichte Verwaltungs- und Bürotätigkeiten regelmäßig vollschichtig auszuüben.
Der Senat stützt sich bei dieser Einschätzung auf das im Verfahren vor dem Sozialgericht eingeholte Gutachten von Prof.Dr. Q und insbesondere auf das für den Senat erstellte Sachverständigengutachten von Dr. W.
Beide Sachverständige arbeiten in ihren Gutachten heraus, daß der Sohn der Klägerin durch die in der DDR erlittene Haft eine ernsthafte und nachhaltige Störung seiner psychischen Konstitution erlitten hat. Prof. Q, der U schon aus Anlaß des Verfahrens vor dem Sozialgericht Köln S 15 V 477/90 wegen der Anerkennung einer Schädigungsfolge nach dem Hälftlingshilfegesetz, untersucht hat, beschreibt, daß bei U die typischen Symptome des von Prof.Dr. Q so bezeichneten "Stasi-Verfolgten-Syndroms" vorliegen. Schon Dr. H war in seinem Gutachten vom 06.08.1991 im obengenannten sozialgerichtlichen Verfahren zu dem Ergebnis gekommen, daß bei U eine ausgeprägte Störung vorliege, die mit erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einhergehe und in deren Rahmen eine Vielzahl bislang therapeutisch nicht zu beeinflussender psychosomatischer Komplexe auftrete. Diese Symptomatik hat Prof. Dr. Q aufgrund seiner vergleichenden Untersuchungen mit anderen "Stasiopfern" als das beim Sohn der Klägerin vorliegende "Stasi-Verfolgten-Syndrom" klassifiziert.
Auch wenn die dadurch verursachte Leistungsbeeinträchtigung seinerzeit mit einer MdE von um 50 v.H. beurteilt worden ist, so stellt doch auch schon Prof. Q in seinem Gutachten dar, daß der Sohn der Klägerin nicht für jegliche Arbeitsverrichtung ungeeignet ist. Leichte Arbeiten seien ihm vollschichtig zumutbar, wobei eine regelhafte Beschränkung der täglichen Arbeitszeit nicht erforderlich sei.
Zweifel an der Erwerbsfähigkeit von U sind dem Senat zunächst deshalb gekommen, weil Prof. Q eine flexible Anpassungsmöglichkeit von Arbeitszeit an den jeweiligen Gesundheitszustand von U für wünschenswert hielt. Die Rechtsprechung des BSG (vgl. hierzu Kasseler Kommentar/Niesel § 43 SGB Vi Rdnr. 89 m. N.) geht davon aus, daß für den Fall, daß der Versicherte nicht mehr unter betriebsüblichen Bedingungen arbeiten kann, weil zusätzliche, über das Arbeitszeitgesetz hinausgehende Pausen erforderlich sind, der Arbeitsmarkt als verschlossen gilt, mit der Folge, daß Erwerbsunfähigkeit anzunehmen ist.
Ein solcher Fall liegt bei U jedoch nicht vor. Dr. W hält zusätzliche Pausen bei U nicht für erforderlich. Auch er beschreibt die nicht unerhebliche Leistungsbeeinträchtigung von U durch das "Stasi-Verfolgten-Syndrom". Jedoch stellt er überzeugend dar, daß insbesondere leichte Büro- und Verwaltungstätigkeiten U nicht nur zumutbar, sondern für seine weitere Fortentwicklung eher förderlich sind. Dem schließt sich der Senat an. Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 44 SGB VI lag und liegt damit bei U nicht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz, (SGG).
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Kindergeld für ihren am 00.00.1965 geborenen Sohn U über dessen 27. Lebensjahr hinaus.
U lebte bis 1984 in der DDR. Er war in der Zeit von März bis November 1984 inhaftiert. Durch die Inhaftierung ist er an einem sogenannten "Stasi-Verfolgten-Syndrom" erkrankt. Wegen dieser Erkrankung erhält U eine Entschädigungsrente nach dem Häftlingshilfegesetz nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H ... Unmittelbar nach der Haft übersiedelte U in die Bundesrepublik Deutschland und besuchte bis Juni 1988 ein Gymnasium. Nach erfolgreicher Abiturprüfung nahm er im Oktober 1988 das Studium der Rechtswissenschaften auf, das er noch nicht abgeschlossen hat.
Auf ihren Antrag vom 27. Oktober 1985 erhielt die Klägerin seit September 1985 Kindergeld und seit 1988 Kindergeldzuschlag. Mit Bescheid vom 08. Mai 1992 hob die Beklagte die Bewilligung von Kindergeld und Kindergeldzuschlag ab Juli 1992 mit der Begründung auf, daß U am 12.06.1992 sein 27. Lebensjahr vollende. Gegen diese Entscheidung erhob die Klägerin Widerspruch, der mit Bescheid vom 02. September 1993 zurückgewiesen wurde. Hiergegen erhob sie Klage vor dem Sozialgericht Köln.
Das Sozialgericht hat ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. Q eingeholt, der U schon anläßlich der Anerkennung der Schädigungsfolgen nach dem Häftlingshilfegesetz untersucht hatte. Dr. Q führte in seinem Gutachten aus, daß U zwar leistungsgemindert sei, aber noch leichte Arbeiten vollschichtig verrichten könne. Eine regelhafte Beschränkung der täglichen Arbeitszeit sei nicht sinnvoll und auch nicht erforderlich. Wünschenswert sei eine Anpassungsmöglichkeit in flexibler Form.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 27. November 1995 abgewiesen. Eine Verlängerung des Bezugszeitraums komme nicht in Betracht, da U die im Gesetz aufgeführten Verlängerungstatbestände nicht erfülle und die dortige Aufzählung abschließend sei. Auch die Gewährung von Kindergeld ohne zeitliche Begrenzung komme nicht in Betracht, weil der Kläger nicht erwerbsunfähig im Sinne des sozialen Rentenrechts sei. U sei von daher auch in der Lage, sich selbst zu unterhalten.
Gegen das ihr am 04. Januar 1996 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 10. Januar 1996 Berufung eingelegt. Die Klägerin meint, aus dem Gutachten von Dr. Q könne sich nicht ableiten lassen, daß U sich selbst unterhalten könne. Jedenfalls die Zeit seiner politischen Haft in der DDR müsse als Verlängerungstatbestand für den Bezugszeitraum von Kindergeld anerkannt werden. Daß U keinen Wehrdienst abgeleistet habe, könne ihm nicht zur Last gelegt werden. Dies habe gesundheitliche Gründe gehabt, die allein auf die Umstände der politischen Haft zurückzuführen seien. Ihr Sohn könne sich nicht selbst versorgen. Wenn sie nicht alles von ihm fernhalte, könnte er auch nicht studieren.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 27.11.1995 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.05.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.09.1993 zu verurteilen, auch für die Zeit vom Juli 1992 bis Februar 1993 Kindergeld für den Sohn U zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend: Es liege weder ein Verlängerungstatbestand vor, noch könne für U Kindergeld weiter gewährt werden, da er vor Vollendung seines 27. Lebensjahres nicht erwerbsunfähig gewesen sei.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Dr. W. In seinem Gutachten vom 30. September 1996 beschreibt Dr. W U als erheblich psychisch fehlentwickelt. Er könne aber an diesen Zustand angepaßte Tätigkeiten noch vollschichtig verrichten. Hierzu gehörten z. B. Büro- und Verwaltungstätigkeiten. Für Tätigkeiten mit gehäuftem Publikumsverkehr sowie Leitungs- oder Führungstätigkeiten jeglicher Art sei er nicht geeignet. Dies könne sich jedoch nach erfolgreicher Durchführung einer Therapie, zu der dringend geraten werde, ändern. Der zur Zeit vorliegende Zustand bestehe schon seit 1992. Mit dem insoweit verbliebenen Restleistungsvermögen könne der Kläger noch regelmäßig leichte Arbeiten vollschichtig verrichten.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozeßakten sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten und den Inhalt der Verfahrensakten des Sozialgerichts Köln S 15 V 477/90, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ihr Klagebegehren beschränkt. Sie verlangt nunmehr nur noch die Verlängerung des Bezugszeitraums von Kindergeld über das 27. Lebensjahr des Kindes hinaus für die Zeit der in der DDR erlittenen politischen Haft im Umfang von 8 Monaten (Juli 1992 bis Februar 1993). Der eingeschränkte Klageantrag in der Berufung ist so auszulegen, daß die Klage im übrigen zurückgenommen worden ist. Im Streit steht damit nurmehr der Kindergeldbezug von Juli 1992 bis Februar 1993.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet.
Für eine Entscheidung über Kindergeldbezugszeiträume bis einschließlich Dezember 1995 ist die Sozialgerichtsbarkeit zuständig. Ansprüche für diese Zeiträume sind nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) in seiner bis zum 31.12.1995 geltenden Fassung zu entscheiden (L 13 S Kg 5797 Beschluss vom 25.02.1997 LSG NW).
Zu Recht hat das Sozialgericht die Weiterbewilligung von Kindergeld für den Sohn U der Klägerin abgelehnt. Ab Juli 1992 hat sie keinen Anspruch mehr auf Kindergeld. U hatte im Juni 1992 das 27. Lebensjahr vollendet. Die Voraussetzungen für eine Verlängerung des Bezugszeitraumes oder der Bewilligung von Kindergeld ohne zeitliche Begrenzung liegen nicht vor. Damit ist im Juni 1992 eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, die die Beklagte gemäß § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch, (SGB X) berechtigt, die Kindergeldzahlung einzustellen.
Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 3 Satz 1 BKGG werden Kinder nur berücksichtigt, wenn sie noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet haben. Daraus ergibt sich, daß der Bezugszeitraum für Kindergeld regelmäßig jedenfalls dann endet, wenn das Kind das 27. Lebensjahr vollendet hat, auch wenn es sich noch in der Ausbildung befindet oder andere in § 2 Abs. 2 genannte Kriterien eingreifen, die die Bezugsdauer über das 16. Lebensjahr hinaus verlängert.
Ausnahmsweise wird diese Höchstbezugsdauer über das 27. Lebensjahr hinaus gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 BKGG verlängert, wenn eine der in den Nrn. 1 bis 3 genannten Voraussetzungen vorliegt. Das ist für den Sohn U der Klägerin nicht der Fall. Seit dem Bestehen seiner Abiturprüfung studiert U Rechtswissenschaften und ist bisher nicht zu einem Abschluß gekommen. Einen der in den Nrn. 1 bis 3 genannten Dienste hat U nicht absolviert.
Der Umstand seiner Inhaftierung in der damals noch existierenden DDR ist kein Sachverhalt, der eine Verlängerung des Bezugszeitraumes für Kindergeld bewirken kann. Andere, als die in § 2 Abs. 3 BKGG genannten Gründe vermögen den Bezugszeitraum für Kindergeld nicht zu verlängern (vgl. Wickenhagen/krebs § 2, Rdnr. 236). Denn der dort aufgeführte Katalog ist abschließend.
Der Umstand der Behinderung ihres Sohnes, der möglicherweise den Abschluß der Ausbildung verzögert, berechtigt nicht zu einem verlängerten Kindergeldbezug (vgl. BSG vom 14.06.1984 10 RKg 13/83 = SozR 5870 § 2 Nr. 34). Dies gilt auch dann, wenn und soweit die Behinderung von U für die Nichtableistung eines in den Nrn. 1 bis 3 genannten Dienstes kausal gewesen sein sollte. Die Wertung der in § 2 Abs. 3 BKGG genannten Verlängerungstatbestände ist eine völlig andere, als die Klägerin sich dies vorzustellen scheint. Das Gesetz will hier keinen Ausgleich schaffen für im Leben erlittene Schicksalsschläge. Vielmehr soll lediglich eine Priveligierung für einen bestimmten, abschließend benannten, Personenkreis erfolgen, der sich gegenüber dem Staat für bestimmte Zeiten dienstverpflichtet hat oder als Entwicklungshelfer tätig war.
Hierin vermag der Senat auch keine spezifische Ungleichbehandlung der Klägerin oder ihres Sohnes zu erkennen. Für die in der DDR erlittene Haft wird der Sohn der Klägerin, wie alle Betroffenen, über das Häftlingshilfegesetz entschädigt. In Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) erhält er u.a. eine Rente nach einer MdE um 50 v.H ... Daneben hat er Anspruch auf die im BVG aufgeführten zusätzlichen Leistungen. Eine darüber hinausgehende Entschädigung auch im Rahmen des Kindergeldbezuges, sieht das Gesetz, wie auch bei anderen Leistungsberechtigten, die gegenüber dem Staat ein Sonderopfer erlitten haben, nicht vor. Der Sohn der Klägerin wird also genauso behandelt, wie andere Betroffene, die im Rahmen einer Sonderopferentschädigung Leistungen vom Staat erhalten. Auch für diese Personengruppe enthält § 2 Abs. 3 keine besonderen Priveligierungstatbestände.
Auch der Tatbestand für eine Kindergeldgewährung ohne zeitliche Begrenzung gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG liegt nicht vor. Denn der Sohn der Klägerin ist trotz seiner Behinderung nicht außerstande, sich selbst zu unterhalten. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG liegen vor, wenn das Kind, für das Kindergeld bezogen wird, vor Vollendung des 27. Lebensjahres erwerbsunfähig im Sinne des Sozialgesetzbuches, 6. Buch, SGB VI war. Eine zeitliche Zuordnung des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit ist dem Gesetz zwar nicht unmittelbar zu entnehmen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (BSG SozR 5870 § 2 Nr. 35 m. N.), der sich der Senat angeschlossen hat (vgl. L 13 Kg 28/93 LSG NW vom 26.04.1996), muß jedoch die die Selbstversorgung ausschließende Gesundheitsbeeinträchtigung vor Vollendung des 27. Lebensjahres entstanden sein, um die regelmäßige Höchstbezugsdauer außer Kraft zu setzen.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, daß U vor Vollendung seines 27. Lebensjahres nicht erwerbsunfähig im Sinne des § 44 SGB VI war.
Erwerbsunfähig im Sinne dieser Vorschrift ist, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße übersteigt.
Der Sohn der Klägerin ist nicht erwerbsunfähig, denn er kann noch leichte Arbeiten vollschichtig verrichten. Dies trifft auch auf die Zeit vor der Vollendung seines 27. Lebensjahres zu.
Soweit das Restleistungsvermögen eines Berechtigten noch ausreicht, leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, liegt, abgesehen von Ausnahmefällen, die durch die Rechtsprechung in einem abschließenden Katalog aufgezählt worden sind, keine Erwerbsunfähigkeit vor (ständige Rechtsprechung des BSG: vom 25.01.1994, 4 RA 35/93; 23.03.1993, 4 BA 121792; vom 14.09.1995, 5 RJ 28/95 mit Abkürzung zu 13 Rj 19/93 vom 23.11.1994; vom 12.06.1996, 5 Rj 94/95 und 65 RJ 108/95; vom 17.07.1996 5 RJ 70/95; vgl. auch Kasseler Kommentar/Niesel § 43 SGB Vi Rdnr. 82 ff.). Der Sohn der Klägerin wird zwar durch die Folgen der von ihm erlittenen politischen Haft in seinem Leistungsvermögen eingeschränkt. Sein verbliebenes Restleistungsvermögen reicht jedoch aus, leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten. Insbesondere ist er noch in der Lage, leichte Verwaltungs- und Bürotätigkeiten regelmäßig vollschichtig auszuüben.
Der Senat stützt sich bei dieser Einschätzung auf das im Verfahren vor dem Sozialgericht eingeholte Gutachten von Prof.Dr. Q und insbesondere auf das für den Senat erstellte Sachverständigengutachten von Dr. W.
Beide Sachverständige arbeiten in ihren Gutachten heraus, daß der Sohn der Klägerin durch die in der DDR erlittene Haft eine ernsthafte und nachhaltige Störung seiner psychischen Konstitution erlitten hat. Prof. Q, der U schon aus Anlaß des Verfahrens vor dem Sozialgericht Köln S 15 V 477/90 wegen der Anerkennung einer Schädigungsfolge nach dem Hälftlingshilfegesetz, untersucht hat, beschreibt, daß bei U die typischen Symptome des von Prof.Dr. Q so bezeichneten "Stasi-Verfolgten-Syndroms" vorliegen. Schon Dr. H war in seinem Gutachten vom 06.08.1991 im obengenannten sozialgerichtlichen Verfahren zu dem Ergebnis gekommen, daß bei U eine ausgeprägte Störung vorliege, die mit erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einhergehe und in deren Rahmen eine Vielzahl bislang therapeutisch nicht zu beeinflussender psychosomatischer Komplexe auftrete. Diese Symptomatik hat Prof. Dr. Q aufgrund seiner vergleichenden Untersuchungen mit anderen "Stasiopfern" als das beim Sohn der Klägerin vorliegende "Stasi-Verfolgten-Syndrom" klassifiziert.
Auch wenn die dadurch verursachte Leistungsbeeinträchtigung seinerzeit mit einer MdE von um 50 v.H. beurteilt worden ist, so stellt doch auch schon Prof. Q in seinem Gutachten dar, daß der Sohn der Klägerin nicht für jegliche Arbeitsverrichtung ungeeignet ist. Leichte Arbeiten seien ihm vollschichtig zumutbar, wobei eine regelhafte Beschränkung der täglichen Arbeitszeit nicht erforderlich sei.
Zweifel an der Erwerbsfähigkeit von U sind dem Senat zunächst deshalb gekommen, weil Prof. Q eine flexible Anpassungsmöglichkeit von Arbeitszeit an den jeweiligen Gesundheitszustand von U für wünschenswert hielt. Die Rechtsprechung des BSG (vgl. hierzu Kasseler Kommentar/Niesel § 43 SGB Vi Rdnr. 89 m. N.) geht davon aus, daß für den Fall, daß der Versicherte nicht mehr unter betriebsüblichen Bedingungen arbeiten kann, weil zusätzliche, über das Arbeitszeitgesetz hinausgehende Pausen erforderlich sind, der Arbeitsmarkt als verschlossen gilt, mit der Folge, daß Erwerbsunfähigkeit anzunehmen ist.
Ein solcher Fall liegt bei U jedoch nicht vor. Dr. W hält zusätzliche Pausen bei U nicht für erforderlich. Auch er beschreibt die nicht unerhebliche Leistungsbeeinträchtigung von U durch das "Stasi-Verfolgten-Syndrom". Jedoch stellt er überzeugend dar, daß insbesondere leichte Büro- und Verwaltungstätigkeiten U nicht nur zumutbar, sondern für seine weitere Fortentwicklung eher förderlich sind. Dem schließt sich der Senat an. Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 44 SGB VI lag und liegt damit bei U nicht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz, (SGG).
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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NRW
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