L 5 V 1083/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 1083/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen sind nur dann rentensteigernd, wenn sie sich auf objektive medizinische Feststellungen gründen und sich aus der Lebenserfahrung konkrete Anhaltspunkts dafür zeigen. Das subjektive Empfinden eines als Richter tätigen Beschädigten, der insbesondere wegen Teilschädigung des rechten Ellennerven mit Schwäche im rechten Kleinfinger und Gefühlsstörungen sowie subjektiven Mißempfindungen in Unterarm und Hand Schreibbehinderungen geltend macht, genügt hierfür nicht, zumal Diktierhilfsmittel zur Verfügung stehen und benutzt werden.
2) Ein übernormaler Energieeinsatz oder eine Gefährdung der Gesundheit im Beruf des Richters liegt bei der Art der Schädigungsfolgen nicht vor. Auch insoweit gelten objektive Maßstäbe.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 12. Oktober 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der 1921 geborene Kläger hatte wegen einer im Februar 1945 erlittenen Granatsplitterverletzung nach ärztlicher Begutachtung mit Bescheid vom 19. Dezember 1947 wegen "Zustand nach Granatsplitterverletzung am re. Arm mit teilweiser Nervenschädigung und Streckbehinderung im re. Ellenbogengelenk” als Leistungsgrund Rente aufgrund des Körperbeschädigtengesetzes (KBLG) nach einer teilweisen Erwerbsunfähigkeit von 30 v.H. erhalten. Im April 1953 war er durch den Medizinalrat Dr. H. nachuntersucht worden. Auf das Ergebnis von dessen Beurteilung gestützt hatte das Versorgungsamt alsdann den bindend gewordenen Bescheid vom 20. April 1953 erlassen, der "Geringe Schwäche im re. Kleinfinger und Gefühlsstörungen der Ulnarseite der re. Hand und des 4. und 5. Fingers infolge Teilschädigung des Ellennerven” als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) bezeichnet und die Rente – auch nach Berücksichtigung des Berufes – mit Wirkung vom 1. Juli 1953 an entzogen hatte, weil die Minderung die Erwerbsfähigkeit (MdE) weniger als 25 v.H. betrage.

Am 25. August 1968 beantragte der Kläger beim Versorgungsamt D. Neufeststellung insbesondere wegen einer zunehmenden Krampfneigung beim Gebrauch der rechten Hand, die in seinem Beruf als Richter beim Amtsgericht besonders ins Gewicht falle.

Hierauf zog die Versorgungsbehörde eine Krankenkassenauskunft bei und liess ihn durch den Nervenarzt Dr. H. untersuchen. Dieser führte in seinem Gutachten vom 4. November 1968 aus, nach Vorgeschichte und Befund handele es sich um geringe Reste einer Ulnarislähmung im rechten Arm nach durchgeführter Nervennaht. Es sei glaubhaft, dass dadurch noch gewisse subjektive Beschwerden bestünden. Aufgrund des gesamten Befundes, einschliesslich einer Neurombildung, sei die MdE mit 20 v.H. einzuschätzen. Ob § 30 Abs. 2 BVG zur Anwendung kommen könne, müsse von der Verwaltung entschieden werden.

Hierauf fussend erging alsdann der Bescheid vom 10. Dezember 1968, der eine Neufeststellung mangels Vorliegens einer wesentlichen Änderung ablehnte, die Schädigungsfolgen jedoch in "Neurombildung nach Nervennaht des N. ulnaris. Schwäche im rechten Kleinfinger und Gefühlsstörungen der Ulnarseite der re. Hand und des 4. und 5. Fingers mit subjektiven Mißempfindungen in Unterarm und Hand” änderte. Besondere beruflich betroffen sei der Kläger nicht. Es sei nicht erkennbar, dass er seine Tätigkeit nur unter Aufbietung außergewöhnlicher Tatkraft und Energie unter Gefährdung seiner Gesundheit ausüben könne.

Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Durch Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1969 wurde der angefochtene Bescheid bestätigt.

Auf den Vortrag des Klägers im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt hin, allein schon die festgestellte Neurombildung bedinge eine höhere MdE, wozu noch das besondere berufliche Betroffensein komme, hat der Beklagte Oberregierungs-Medizinalrat W. Stellung nehmen lassen, der eine MdE von 20 v.H. für angemessen gehalten hat.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens, das der Facharzt für Nervenkrankheit Dr. G. am 15. Juli 1970 erstattet hat. Nach Wertung der aktenkundigen Vorgeschichte und Untersuchung hat er sich dahin geäußert, dass bei dem Kläger eine periphere Teilschädigung des Nervus ulnaris mit Neurombildung bestehe. Durch diese Teillähmung ließen sich die angegebenen Krämpfe der rechten Hand nicht erklären. Die MdE sei mit 20 v.H. dem Befund entsprechend beurteilt.

In seiner Erwiderung hierauf hat der Kläger bemängelt, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen seiner Berufsbetroffenheit nicht berücksichtigt worden seien.

Mit Urteil vom 12. Oktober 1970 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die medizinischen Sachverständigen hätten den Grad der MdE im allgemeinen Erwerbsleben richtig geschätzt. Eine Erhöhung gemäß § 30 Abs. 2 BVG komme nicht in Betracht, weil der Kläger sein angestrebtes Berufsziel erreicht habe. Ein besonderer Energieeinsatz unter Gefährdung seiner Gesundheit können nicht angenommen werden.

Gegen dieses Urteil, das am 27. Oktober 1970 mittels eingeschriebenen Briefes an den Kläger abgesandt worden ist, richtet sich seine am 26. November 1970 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung.

Zur Begründung trägt er vor, er halte eine weitere medizinische Sachaufklärung für notwendig, weil der Gerichtsgutachter die Verkrampfung seiner rechten Hand nicht habe erklären können. Gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) benenne er Prof. Dr. F. von der Neurologischen Universitätsklinik F. als Arzt seines Vertrauens. Nachdem der Senat seinem Antrag gefolgt war und der Sachverständige zusammen mit dem Oberarzt Dr. S. das Gutachten vom 21. November 1972 erstattet hatte, bemängelte er, dass die Frage der seelischen Begleiterscheinungen infolge seiner Schmerzen nicht berücksichtigt worden sei. Sie ergäben zumindest einen Grad der MdE von 5 v.H., so dass ihm Rente nach einer Gesamt-MdE von 30 v.H. schon aus medizinischen Gründen zustehe, erst recht unter Berücksichtigung seines beruflichen Betroffenseins. Notfalls sei der Komplex seiner seelischen Begleiterscheinungen noch gutachterlich zu klären.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 12. Oktober 1970 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 10. Dezember 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1969 zu verurteilen, wegen wesentlicher Änderung der anerkannten Schädigungsfolgen sowie wegen besonderen beruflichen Betroffenseins Versorgung nach einem Grad der MdE von 30 v.H. zu gewähren,
hilfsweise,
von Amts wegen weiteren Beweis zu erheben.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Akten des Versorgungsamtes D. mit der Archiv-Nr ... haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 148 Ziff. 3, 151 Abs. 1 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 10. Dezember 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1969 ist nicht rechtswidrig.

Rechtsgrundlage ist vorliegend § 62 Abs. 1 BVG, wonach der Anspruch entsprechend neu festzustellen ist, wenn in den Verhältnissen, die für seine Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Denn es ist nicht wahrscheinlich im Sinne der im Versorgungsrecht geltenden Kausaltheorie, dass die anerkannten Schädigungsfolgen eine Änderung im Sinne einer Verschlimmerung erfahren haben, die einen rentenberechtigenden Grad der MdE ergibt. Auch die Vorschrift des § 30 Abs. 2 BVG kommt nicht zur Anwendung, ebensowenig wie sich seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen im Sinne des § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG MdE-steigernd auswirken.

Was die Erwerbsminderung des Klägers im allgemeinen Erwerbsleben nach § 30 Abs. 1, 1. Halbsatz BVG angeht, so haben die Fachärzte für Nervenkrankheiten Dr. H. und Dr. G. in ihren Gutachten vom November 1968 und vom Juli 1970 ausgeführt, dass nur noch eine periphere Teilschädigung des Ulnarisnerven mit einer in den Bescheid vom 10. Dezember 1968 aufgenommenen Neurombildung besteht. Hierzu hat sich Oberregierungs-Medizinalrat W. zusätzlich dahin geäußert, die durch die Nervenschädigung insgesamt bedingte MdE sei mit 20 v.H. dem Befunde entsprechend beurteilt. Diese Feststellungen, die nach eingehender Untersuchung und sorgfältiger Auswertung sämtlicher erhobener Befunde getroffen worden sind, hält der Senat für überzeugend. Dass der Gerichtsgutachter erster Instanz ausgeführt hat, die vom Kläger angegebenen ihn besonders beeinträchtigenden Krämpfe der rechten Hand ließen sich durch die teilweise Nervenlähmung nicht erklären, konnte den Senat weder zu einer anderen Entscheidung noch zu weiterer Ermittlung von Amts wegen veranlassen. Denn Dr. G. hat sich überzeugend dahin geäußert, dass diese Beeinträchtigung keine organische Erklärung finde. Selbst bei einer völligen Ulnarislähmung komme es nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft nicht zu Verkrampfungen beim Schreiben. Hierbei handele es sich nach nervenärztlichen Erfahrungen immer um psychische Störungen auf nervöser Grundlage. Da die Schriftprobe, welche der Kläger bei dem Gerichtsgutachter abgegeben hat, lediglich eine persönlichkeitsbedingte Ausprägung und keine auffälligen Verzitterungen aufweist, besteht keine Veranlassung, diesen Ausführungen des erfahrenen Facharztes für Nervenkrankheiten nicht zu folgen. Ein Schreibkrampf kann hiernach nicht Folge der erlittenen Kriegsverletzung und damit nicht kausal im Sinne des § 1 Abs. 3 BVG sein, ohne dass bis ins letzte aufgeklärt zu werden braucht, welche versorgungsrechtlich nicht relevanten Ursachen zugrundeliegen. Das um so weniger, als Prof. Dr. F. und Oberarzt Dr. S. von der F. Universitätsklinik, die als Ärzte des Vertrauens des Klägers nach § 109 SGG gehört worden sind, von dem Ergebnis nicht abweichen. Auch sie haben wie sämtliche anderen Ärzte vor ihnen schädigungsbedingte partielle Lähmung des rechten Nervus ulnaris mit Neurombildung im Nervenbereich in der Ellenbogengegend gefunden. Die Erscheinungen der Kriegsverletzung bezeichnen sie ausdrücklich als leicht. Obwohl sie sich dann überdies eingehend mit der Überempfindlichkeit im Bereich des 5. Fingers und den Beschwerden durch die Neurombildung befasst haben, die subjektiv zu unangenehmen, teilweise als schmerzhaft empfunden Parästhesien führten und auf die sensiblen Störungen beim Schreiben eingegangen sind, haben sie doch eine MdE von nicht mehr als 20 v.H. als angemessen betrachtet. Mehr ist im Einklang mit den Anhaltspunkten der Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen auch nicht zuzubilligen.

Besonders beruflich betroffen als Richter beim Amtsgericht ist der Kläger nicht. Hierzu hat das Sozialgericht Ausführungen gemacht, denen der Senat in vollem Umfang beitritt. Der Kläger hat sein angestrebtes Berufsziel trotz der Verletzungsfolgen erreicht. Dass er eine besondere Energie im Sinne der einschlägigen Rechtsprechung aufwenden muss, um in seinem Amte zu fungieren, ist nicht anzunehmen. Gewisse Beeinträchtigungen bei der tatsächlichen Dezernatsarbeit infolge der teilweisen Ulnarislähmung mögen wohl vorhanden sein. Da aber besonders störende Erscheinungen eines Schreibkrampfes als Schädigungsfolge auszuschließen sind, kann von einem übernormalen Energieeinsatz im Sinne der bekannten, strengen Kriterien unterliegenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat anschließt, nicht gesprochen werden. Eine Gefährdung der Gesundheit hat der Kläger im Verlaufe der 2. Instanz zwar zusätzlich behauptet. Er hat sie jedoch nicht belegt. Sie kann aufgrund der anerkannten Schädigungsfolgen auch keinesfalls angenommen werden, insbesondere deshalb nicht, weil Auswirkungen der Verwundung nicht zu nennenswerten Zeiten von Dienstunfähigkeit geführt haben. Überdies haben Prof. Dr. F. und Dr. S. eine Gefährdung der Gesundheit ausgeschlossen. Die Erhöhung der MdE in positiver Anwendung des § 30 Abs. 2 BVG kam hiernach nicht in Betracht.

Das gleiche gilt im Ergebnis unter Berücksichtigung des § 30 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz BVG. Seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen sind im konkreten Fall nur dann rentensteigernd, wenn sie sich auf objektive medizinische Feststellungen gründen und sich aus der Lebenserfahrung konkrete Anhaltspunkte dafür zeigen. Ein subjektives Empfinden des Beschädigten genügt nicht, in seinem Wohlbefinden beeinträchtigt oder in seinem Lebensgefühl eingeschränkt zu sein. Zu diesem Fragenkomplex nimmt der Senat auf seine Rechtsprechung Bezug, die er in dem Urteil vom 14. Juni 1972 (Az.: L 5 V – 1066/70) niedergelegt hat und mit welcher er sich in Übereinstimmung mit der Auffassung des BSG befindet (vgl. z.B. BSG-Urteil vom 6.5.1969 in "Die Kriegsopferversorgung” 1970, S. 29 ff.). Was der Kläger zu seelischen Begleiterscheinungen vorgetragen hat, ist nun aber geradesubjektiver Natur. Das geht mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Gutachten der F. Universitätsneurologen hervor. Sie haben auf S. 23 Formulierungen gewählt, die, ohne dass der Tatbestand des § 30 Abs. 1, Satz 1, 2. Halbsatz BVG vom Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits in das Verfahren eingeführt war, die anstehenden Fragen im für den Kläger negativen Sinne beantworten. Denn es ist lediglich von subjektiv sehr unangenehmen, teilweise schmerzhaft empfundenen Elektrisierungsgefühlen im 4. und 5. Finger der rechten Hand die Rede sowie von sensiblen Störungen beim Schreiben durch nicht normale Wahrnehmung der Schreibunterlage. Die objektiven Befunde in Form von neurologischen Ausfallerscheinungen waren dagegen leicht. Hiernach sind die Missempfindungen des Klägers als persönlichkeitsgebunden zu werten. Sie halten den Anforderungen der einschlägigen Rechtsprechung nicht stand. Was die Lebenserfahrung angeht, so hat der Senat bei einem Richterkollegen aus eigener Sachkunde genügend konkrete Anhaltspunkte für die Überzeugung, dass die notwendigen Schreibarbeiten ausgeführt werden können, ohne dass seelische Begleiterscheinungen der Schädigungsfolge eintreten. Die das Wohlbefinden beeinträchtigenden Parästhesien und sonstige Störungen, welche zu Schmerzen führen könnten, lassen sich objektiv überwinden, zumal dem Kläger nach seinem Vortrag ein Diktiergerät zur Verfügung steht, das außer für Urteile sicher auch für längere schriftliche Ausführungen wie Beweis- und Eröffnungsbeschlüsse benutzt werden kann, die bei konzentrierter Arbeitsweise nicht konzipiert zu werden brauchen.

Nach alledem war, wie geschehen, zu erkennen, ohne dass der Hilfsantrag des Klägers berücksichtigt zu werden brauchte.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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