L 13 An 928/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 6 An 1014/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 13 An 928/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 36/97
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Juli 1995 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat der Klägerin ihre zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Aufwendungen auch der Berufungsinstanz zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist die Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente der Klägerin, insbesondere die rentensteigernde Berücksichtigung der von ihr für Zeiten der Heiratserstattung nachgezahlten freiwilligen Beiträge.

Aufgrund ihres Antrags vom 7. November 1991 bewilligte die Beklagte der am 11. Mai 1941 geborenen Klägerin eine medizinische Maßnahme zur Rehabilitation, die vom 15. September 1992 bis 3. November 1992 in der O.klinik St. W. durchgeführt wurde. Nach dem Entlassungsbericht dieser Klinik vom 8. Dezember 1992 bestand bei der Klägerin der Verdacht auf eine kombinierte motoneuronische Erkrankung sowie eine Coxarthrose beiderseits. Aufgrund dieser Erkrankungen schätzten die behandelnden Ärzte der Kurklinik das Leistungsvermögen der Klägerin dahingehend ein, daß diese nur noch in einem zeitlichen Umfang von zwei Stunden bis unter halbschichtig Tätigkeiten mit weiteren qualitativen Einschränkungen verrichten könne.

Unmittelbar im Anschluß an die Kur stellte die Klägerin am 13. November 1992 bei der Beklagten den Antrag auf Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen für Zeiten, für die ihr Beiträge wegen Heirat erstattet worden waren. Die Beklagte ließ mit Bescheid vom 12. Januar 1993 die Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen für die Zeit vom 1. Januar 1956 bis 31. März 1964 in Höhe von insgesamt 14.744,10 DM zu. Die Klägerin entrichtete diesen Betrag im Rahmen der ihr gesetzten Zahlungsfrist (Wertstellung bei der Beklagten am 2. Februar 1993).

Auf Antrag der Klägerin vom 8. Februar 1993 bewilligte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 23. Juni 1993 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem 4. November 1992 unter Zugrundelegung eines am 15. September 1992, dem Beginn der Rehabilitationsmaßnahme in der O.klinik St. W., eingetretenen Versicherungsfalls. Bei der Berechnung dieser Rente ließ sie die von der Klägerin im Februar 1993 nachgezahlten freiwilligen Beiträge für die Zeiten der Heiratserstattung unberücksichtigt. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 12. Juli 1994 und machte geltend, sie sei während der Rehabilitationsmaßnahme im Oktober 1992 durch einen Berater der Beklagten dahingehend beraten worden, die freiwilligen Beiträge nachzuzahlen und sodann je nach Krankheitsverlauf einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu stellen. Sie habe deshalb den Rentenantrag auch erst im Februar 1993 nach der Nachzahlung der freiwilligen Beiträge gestellt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 1994 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte sie aus, daß nach § 75 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) freiwillige Beiträge nur dann berücksichtigt werden könnten, wenn sie vor Eintritt der Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit gezahlt worden seien. Dies gelte auch für freiwillige Beiträge, die nach Eintritt der Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit für Zeiten vorher entrichtet würden. Der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei bei der Klägerin im September 1992 eingetreten, so daß die im Februar 1993 nachgezahlten Beiträge bei der Berechnung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht berücksichtigt werden könnten. Es läge auch keine mangelhafte Beratung bzw. Falschberatung vor. Tatsächlich habe seinerzeit zwar der Versichertenälteste Sch. in der Rehabilitationsklinik St. W. Beratungsgespräche durchgeführt, dieser könne sich jedoch an die Klägerin nicht erinnern.

Auf die daraufhin am 4. August 1994 erhobene Klage hat das Sozialgericht Darmstadt die Beklagte mit Urteil vom 6. Juli 1995 unter Abänderung des Rentenbewilligungsbescheides vom 23. Juni 1993 und unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 12. Juli 1994 verurteilt, die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit der Klägerin unter Berücksichtigung der für die Zeit vom 1. Januar 1956 bis 31. März 1964 nachgezahlten freiwilligen Beiträge zu berechnen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, daß zwar nach § 75 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit Entgeltpunkte nur für freiwillige Beiträge ermittelt würden, die bis zum Eintritt der hierfür maßgeblichen Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt worden sind. Vorliegend sei dies zwar nicht der Fall, die Berücksichtigung der im Rahmen des § 282 SGB VI nachgezahlten freiwilligen Beiträge bei der Berechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente der Klägerin sei jedoch nach § 75 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI möglich. Nach dieser Ausnahmeregelung zu der vorgenannten Regelung könnten freiwillige Beiträge, die nach Eintritt der hierfür maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt worden sind, dennoch berücksichtigt werden, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit während eines Beitragsverfahrens oder eines Verfahrens über einen Rentenanspruch eingetreten ist. Nach Auffassung des Sozialgerichts ist diese Ausnahmeregelung auch auf den vorliegenden Fall anwendbar, in dem es um freiwillige Beiträge geht, die nach einer durch das SGB VI eingeführten Sondervorschrift (§ 282 SGB VI) nachgezahlt worden sind. Die Vorschrift sei nicht auf freiwillige Beiträge beschränkt, die laufend zu zahlen seien und deren Rechtswirksamkeit sich nach §§ 197 und 198 SGB VI richteten. Dem Wortlaut und Zweck dieser Vorschrift könne man eine solche einschränkende Interpretation nicht entnehmen. Gleiches gelte für die gesetzgeberischen Motive zu § 75 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI. Dort heiße es lediglich, die Vorschrift stelle klar, daß freiwillige Beiträge, die im Anschluß an ein Beitragsverfahren oder an ein Verfahren über einen Rentenanspruch für Zeiten vor Rentenbeginn gezahlt werden, als rechtzeitig gezahlt gelten, so daß Nachteile für Betroffenen vermieden werden (BT-Drucksache 11/5530). Die Voraussetzung dieser Ausnahmevorschrift sei vorliegend auch gegeben. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei während eines Verfahrens über den Rentenanspruch eingetreten. Rentenverfahren sei dabei auch das Verfahren über einen Anspruch auf Leistungen zur Rehabilitation das – wie vorliegend – gemäß § 116 Abs. 2 SGB VI in ein Rentenverfahren münde, weil der entsprechende Antrag als Rentenantrag gelte. Das Verfahren habe somit mit dem Datum des Antrags der Klägerin auf medizinische Leistungen zur Rehabilitation am 7. November 1991 begonnen. Dieser Antrag gelte nach § 116 Abs. 2 SGB VI als Antrag auf Rente, da die Leistungen zur Rehabilitation nicht erfolgreich gewesen seien und ergeben hätten, daß die Klägerin erwerbsunfähig sei. Diese habe noch während des Rentenverfahrens die Nachzahlung der freiwilligen Beiträge im Rahmen des § 282 SGB VI beantragt und auch geleistet, so daß sie in jedem Falle rechtzeitig entrichtet worden seien.

Gegen dieses der Beklagten am 8. August 1995 zugestellte Urteil richtet sich deren am 4. September 1995 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung trägt die Beklagte vor, die Ausnahmebestimmung des § 75 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI sei aus mehreren Gründen nicht einschlägig. Zum einen verkenne das Sozialgericht den Zweck des § 116 Abs. 2 SGB VI, der darauf begrenzt sei, den Antragsteller vor einer faktischen Verschiebung des Rentenbeginns zu bewahren. Sinn und Zweck dieser Bestimmung sei es, die engen Antragsfristen des § 99 Abs. 1 SGB VI zu erweitern, um den Grundsatz "Rehabilitation vor Rente” praktisch sicherzustellen und zu gewährleisten, daß sich die Rehabilitationsbereitschaft eines Versicherten nicht nachteilig auswirke. Die Vorschrift bezwecke also nur, den Antragsteller vor einer faktischen Verschiebung des Rentenbeginns zu bewahren. Hingegen solle mit dieser Bestimmung nicht erreicht werden, daß der Rentenzahlbetrag durch Einbeziehung zusätzlicher Entgeltpunkte erhöht werde. Das Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts vom 25. Mai 1993 (SozR 3-2200 § 1304 a Nr. 2) stehe dem nicht entgegen, da dort einem Nachteil des Versicherten begegnet worden sei, wogegen es vorliegend um eine vorzeitige Erhöhung der Rente gehe. Im übrigen seien nach Auffassung der Beklagten allenfalls solche freiwilligen Beiträge bei der Berechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente zu berücksichtigen, die innerhalb der Frist des § 197 Abs. 2 SGB VI zu zahlen sind, nicht jedoch solche, die im Wege einer außerordentlicher Nachzahlung geleistet werden. Es möge zutreffen, daß § 75 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI mit § 198 Satz 1 SGB VI korrespondiere, aus diesem Umstand könne jedoch keinesfalls der Schluß gezogen werden, daß nach § 282 SGB VI nachgezahlte freiwillige Beiträge ebenfalls dieser Ausnahmeregelung unterfallen würden. Wie der VDR-Kommentar zutreffend ausgeführt habe, sei die ausnahmsweise vorzunehmende Einbeziehung von freiwilligen Beiträgen "in erster Linie im Zusammenhang mit den Anwartschaftsregelungen der §§ 240 bis 242 SGB VI zu sehen ”. Es solle also gewährleistet werden, daß mit fortlaufend zu entrichtenden freiwilligen Beiträgen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erhalten bleiben könnten.

Hingegen sei es nicht Zweck der Bestimmung, den Rentenzahlbetrag mit freiwilligen Beiträgen zu erhöhen, die im Wege außerordentlicher Nachzahlung entrichtet werden. Auch in der Literatur werde diese Meinung vertreten.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Juli 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie sieht sich in ihrer Rechtsauffassung durch das angegriffene Urteil des Sozialgerichts Darmstadt bestätigt und hält die Rechtsauffassung der Beklagten nicht für überzeugend. Dies ergebe sich bereits aus dem klaren Wortlaut des § 75 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI. Im übrigen weist die Klägerin nochmals darauf hin, daß sie während der Rehabilitationsmaßnahme von einem Mitarbeiter der, Beklagten unzutreffend beraten worden sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der die Klägerin betreffenden Rentenakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte den vorliegenden Rechtsstreit gemäß §§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erteilt haben.

Die Berufung ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 SGG).

In der Sache ist die Berufung jedoch unbegründet.

Das angegriffene Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Juli 1995 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die angegriffenen Bescheide der Beklagten verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat Anspruch auf rentensteigernde Berücksichtigung der für Zeiten der Beitragserstattung nachentrichteten freiwilligen Beiträge bei der Berechnung ihrer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und damit auf einen hieraus resultierenden höheren Rentenzahlbetrag.

Die Klägerin hat im Februar 1993 für Zeiten der Heiratserstattung vom 1. Januar 1956 bis 31. März 1964 freiwillige Beiträge gemäß § 282 SGB VI ordnungsgemäß und rechtzeitig nachentrichtet. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Der rentensteigernden Berücksichtigung dieser für Zeiten vor Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit am 15. September 1992 nachentrichteten Beiträge bei der Berechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente der Klägerin steht nicht entgegen, daß gemäß § 75 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI als Grundregel u.a. für freiwillige Beiträge, die nach Eintritt der für diese Rente maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt worden sind, Entgeltpunkt nicht ermittelt werden, denn diese Regelung erfährt durch den nachfolgenden Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 eine Einschränkung. Freiwillige Beiträge, die nach Eintritt der maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt worden sind, sind hiernach dennoch mit den entsprechenden Entgeltpunkten bei der Berechnung dieser Rente zu berücksichtigen, sofern die Minderung der Erwerbsfähigkeit während eines Beitragsverfahrens oder eines Verfahrens über einen Rentenanspruch eingetreten ist. Die Bezeichnung "Verfahren über einen Rentenanspruch” bezeichnet das mit der Stellung des Rentenantrags beginnende Verwaltungsverfahren (§ 115 Abs. 1 SGB VI) einschließlich eines sich anschließenden Rechtsstreits vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit bis zur Bindungswirkung des Rentenbescheides. Die maßgebende Minderung der Erwerbsfähigkeit darf hiernach nicht bereits seit Beginn dieses Verfahrens vorliegen, sondern muß während des Verfahrens eingetreten sein.

Vorliegend war zum Zeitpunkt der Zahlung der Nachentrichtungsbeiträge am 2. Februar 1993 zwar noch kein ausdrücklicher Rentenantrag gestellt, aufgrund des Antrags der Klägerin vom 7. November 1991 auf Bewilligung von medizinischen Maßnahmen zur Rehabilitation bestand jedoch ein fiktives Verfahren über einen Rentenanspruch gemäß § 116 Abs. 2 SGB VI. Da die Versicherte auch erwerbsunfähig ist und die medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen nicht erfolgreich gewesen sind, weil sie die Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht verhindert haben, gilt der Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation als Antrag auf Rente.

Entgegen der Auffassung der Beklagten findet die Rentenantragsfiktion bzw. -umdeutung des § 116 Abs. 2 SGB VI auch im Rahmen des § 75 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI Anwendung. Diese Fiktion verwirklicht in besonderer Weise den Grundsatz "Rehabilitation vor Rente” (vgl. hierzu BSG SozR 3-2200 § 1304 a Nr. 2), das Interesse des Versicherten an Rehabilitationsmaßnahmen soll hierdurch gestärkt werden. Nach der sozialpolitischen und sozialrechtlichen Zielsetzung sollen Versicherte im Fall der Erwerbsminderung hierdurch angehalten werden, mittels eines Antrags auf Rehabilitation zunächst die Wiederherstellung ihrer Erwerbsfähigkeit zu erstreben. Mit der Antragsfiktion bzw. Antragsumdeutung durch § 116 Abs. 2 SGB VI "wird sichergestellt, daß sich die Rehabilitationsbereitschaft der Versicherten rentenrechtlich nicht nachteilig auswirken kann” (so die Begründung des RRG, BT-Drs./4124 S. 178, 179). Diesen Gesetzeszweck kann die Vorschrift nur erfüllen, wenn der Antragsumdeutung eine umfassende Wirkung zugemessen wird. Sie muß daher zur Vermeidung von Nachteilen für Versicherte, die sich – wie die Klägerin – einer letztlich erfolglosen Rehabilitationsmaßnahme unterzogen haben, auch dann gelten, wenn das Gesetz – wie in § 75 SGB VI – bei Gestaltungsrechten bzw. für die Berücksichtigungsfähigkeit zulässig entrichteter freiwilliger Beiträge darauf abstellt, daß ein Verfahren über einen Rentenanspruch eingeleitet ist.

Wie das Sozialgericht zutreffend entschieden hat, umfaßt der Anwendungsbereich der Ausnahmeregelung des § 75 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI nicht nur die Nachzahlung freiwilliger Beiträge gemäß §§ 197, 198 SGB VI, die für die Erhaltung der Anwartschaft auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsunfähigkeit erforderlich sind, sondern auch außerordentliche Möglichkeiten der Beitragsnachentrichtung, wie vorliegend die Nachentrichtung wegen Heiratserstattung gemäß § 282 SGB VI. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus dem Wortlaut und der Systematik des § 75 Abs. 2 SGB VI. Es ist unbestritten, daß Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 die grundsätzliche Nichtberücksichtigung von freiwilligen Beiträgen für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit anordnet, die nach Eintritt der hierfür maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt worden sind. Die Vorschrift gilt für alle Beitragsnachzahlungen ungeachtet ihrer Rechtsgrundlage und regelt lediglich die Berücksichtigungsfähigkeit für den konkreten Fall der Erwerbsminderung, nicht jedoch die Wirksamkeit bzw. Zulässigkeit der Zahlung. Diese bemißt sich nach den Nachentrichtungsvorschriften der §§ 197, 198 SGB VI bzw. nach den jeweiligen Sondervorschriften der §§ 204 ff., 282 ff. SGB VI. § 75 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ist Ausdruck des Versicherungsprinzips und trägt dem Gedanken Rechnung, daß ein bereits eingetretener Versicherungsfall nicht versichert bzw. nicht versicherbar ist (vgl. Niesel, in Kasseler Kommentar § 75 SGB VI Rdnr. 8), insbesondere soll hierdurch ausgeschlossen werden, daß Leistungsansprüche nach Eintritt des hierfür maßgeblichen Versicherungsfalls noch erhöht oder gar begründet werden. Die Ausnahmeregelung des Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 stellt generell und ohne Einschränkung auf "freiwillige Beiträge nach Satz 1 Nr. 2” ab, umfaßt ihrem Wortlaut nach daher ebenfalls alle Beitragsnachentrichtungen, ungeachtet ihrer Rechtsgrundlage. Die Entstehungsgeschichte des § 75 Abs. 2 SGB VI widerspricht dieser Auslegung nicht. Im Gesetzgebungsverfahren zum Rentenreformgesetz 1992 (RRG) war als Einschränkung des allgemeinen Nichtberücksichtigungsgrundsatzes nur vorgesehen, daß die nachentrichteten Beiträge "nicht einem Verfahren, das nach § 198 zur Fristenunterbrechung führt” gezahlt worden sind (vgl. Niesel a.a.O.). Diese konkrete, auf die allgemeine Nachentrichtungsmöglichkeit des § 197 Abs. 2 SGB VI abstellende und begrenzte Ausnahmeregelung wurde jedoch durch Artikel 1 Nr. 9 RÜG vom 25. Juli 1991 (BGBl. I 1606) wieder gestrichen und dafür die umfassende derzeitige Ausnahmeregelung des Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 normiert. Der Gegenmeinung ist zwar zuzugestehen, daß die mit der Ausnahmeregelung verfolgte Schutzwirkung zugunsten des Rentenantragstellers bei den Sondernachentrichtungstatbeständen weniger unmittelbar einsichtig ist, als bei der anwartschaftserhaltenden Beitragsnachentrichtung, dennoch ist die Notwendigkeit zur Anwartschaftserhaltung nach dem derzeitigen Wortlaut der Vorschrift lediglich der historische Anlaß für die hier in Frage stehende Ausnahmeregelung gewesen, sie ist nicht zur tatbestandlichen Voraussetzung des Abs. 2 Satz 2 gemacht worden. Darüber hinaus ist die Notwendigkeit zur anwartschaftserhaltenden Beitragsnachentrichtung auch durch die Neuregelung der §§ 240 bis 242 SGB VI stark reduziert worden, da hiernach Kalendermonate, für die die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zulässig ist, nicht mit Anwartschaftszeiten belegt sein müssen.

Es ergeben sich somit keine zwingenden Argumente für eine den Wortlaut der Regelung einschränkende restriktive Interpretation des § 75 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI.

Nach alledem konnte die Berufung der Beklagten keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision hat der Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Rechtskraft
Aus
Saved