S 12 AY 379/25 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
Abteilung
12
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AY 379/25 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Gegen höherrangiges Recht verstößt § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG, weil die Norm europarechts- und verfassungswidrig ist.

 

Obwohl § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG zum 01.11.2024 in Kraft getreten ist, dürfen alle Asylbewerberleistungsempfänger darauf vertrauen, dass der gesetzeskräftige Leistungsausschluss weder von Asylbewerberleistungsbehörden noch von Sozialgerichten angewandt wird.

 

Es ist selbst dann keine „wesentliche Änderung“ im Sinne des § 48 SGB X gegeben, wenn die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen des Wortlauts aus § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG erfüllt sind.

Tenor:

1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 15.02.2025 gegen den Bescheid vom 11.02.2025 wird angeordnet.

 

2. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.

 

 

 

Gründe:

Gründe

 

1.

 

Der Antragsteller ist ein am 04.11.1997 geborener Palästinenser. Er verließ den Gaza-Streifen und reiste nach Griechenland aus, dass ihm am 26.10.2021 internationalen Schutz gewährte. Der Antragsteller reiste dennoch nach Deutschland ein und beantragte hier beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asyl.

 

Die Antragsgegnerin bewilligte ihm zur Sicherung seines Existenzminimums Leistungen nach §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) durch einen dem Gericht nicht vorgelegten Bewilligungsbescheid (eines infolgedessen unbekannten Erlassdatums sowie unbekannter Bewilligungsdauer).

 

Das BAMF lehnte den Asylantrag des Antragstellers mit Bescheid vom 27.01.2025 als unzulässig ab. Zugleich ordnete es seine Abschiebung in den für sein Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaat – Griechenland – an. Hiergegen erhob der Antragsteller Anfechtungsklage zum Verwaltungsgericht Karlsruhe (Aktenzeichen: A 13 K 664/25). Zugleich ersuchte der Antragsteller das Verwaltungsgericht Karlsruhe um einstweiligen Rechtsschutz (A 13 K 665/25). Diesem Eilantrag gab das Verwaltungsgericht am 13.02.205 statt, indem es die aufschiebende Wirkung der Klage A 13 K 664/25 gegen die Abschiebungsanordnung des BAMF vom 27.01.2025 mit der Begründung anordnete, im Falle einer Abschiebung nach Griechenland drohten dem Antragsteller eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.

 

Bereits am 11.02.2025 hatte die Antragsgegnerin im „BESCHEID über die Einstellung von laufenden Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz“ verfügt, der Antragsteller sei „ab dem 01.03.2025 nicht mehr nach dem AsylbLG leistungsberechtigt“ und auf den Bescheid des BAMF vom 27.01.2025 sowie § 1 Abs. 4 AsylbLG verwiesen.

 

Am Samstag, den 15.02.2025, hat der Antragsteller gegen den Einstellungsbescheid vom 11.02.2025 Widerspruch eingelegt. Zugleich hat er beim Sozialgericht Karlsruhe den Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragt (S 12 AY 379/25 ER). Er meint, die angefochtene Leistungseinstellung sei formell rechtswidrig. Denn vor ihrem Erlass sei er nicht angehört worden. Der Bescheid sei auch materiell rechtswidrig. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung der Leistungsbewilligung lägen nicht vor. Auf § 45 SGB X könne die Aufhebung vom 11.02.2025 nicht gestützt werden. Diese Ermächtigungsgrundlage setze einen – hier fehlenden – Gebrauch des Aufhebungsermessens voraus. Auf § 48 SGB X könne zwar eine Aufhebung ohne Ermessensausübung gestützt werden. Sie erfordere aber eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen. An einer solchen fehle es. Insbesondere liege kein Fall des § 1 Abs. 4 AsylbLG vor. Die Ausreisepflicht des Antragstellers sei nämlich nicht vollziehbar. Zwar habe Griechenland ihm internationalen Schutz gewährt und das BAMF ihm am 27.01.2025 eine Abschiebung nach Griechenland angedroht. Diese Abschiebungsandrohung wirke im Fall des Antragstellers aber noch nicht. Denn gegen die Abschiebungsandrohung habe er zum Verwaltungsgericht Karlsruhe die Klage A 13 K 664/25 erhoben. Diese Klage schiebe die Wirkung der Abschiebungsandrohung des BAMF einstweilen auf. Eben dies habe das Verwaltungsgericht Karlsruhe im Verfahren A 13 K 665/25 am 13.02.2025 zu seinen Gunsten angeordnet.

Im sozialgerichtlichen Verfahren S 12 AY 379/25 ER beantragt der Antragsteller wörtlich:

 

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 15.02.2025 gegen den Bescheid vom 11.02.2025 wird angeordnet, hilfsweise, die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung für den Zeitraum ab 01.03.2025 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach dem AsylbLG ohne Einschränkung zu gewähren.

 

Die Posteingangsstelle des Sozialgerichts Karlsruhe hat den Eilantrag vom Samstag erst am nachfolgenden Montag, den 17.02.2025, registriert, für ihn eine Akte angelegt und ein Aktenzeichen vergeben. Sodann ist der Vorgang an die zuständige 12. Kammer und von deren Urkundsbeamtin an den Vorsitzenden weitergeleitet worden. Dieser hat der Antragsgegnerin den Eilantrag am 17.02.2025 um 10:22 Uhr weiterleiten lassen „zur Kenntnis und Erwiderung unter Vorlage der Verwaltungsakte binnen 1 Woche nach Erhalt“ sowie unter dem Hinweis darauf, dass „auch verhandelt und entschieden werden kann, wenn die Erwiderung nicht innerhalb der gesetzten Frist eingeht (§ 104 Satz 4 SGG)“. Dessen ungeachtet hat die Antragsgegnerin bis zum 25.02.2025, 9:25 Uhr, weder auf den Eilantrag S 12 AY 379/25 ER erwidert noch ihre Verwaltungsvorgänge vorgelegt.

 

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte verwiesen.

 

 

2.

 

a) Dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist vollumfänglich stattzugeben.

 

Der vorrangig gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 15.02.2025 gegen den Bescheid vom 11.02.2025 ist zulässig und begründet.

 

Die Sachentscheidungsvoraussetzungen für den Erlass einer Eilanordnung liegen vor. Das Sozialgericht Karlsruhe ist für Streitigkeiten der Beteiligten nach dem AsylbLG das Gericht der Hauptsache. Auch ist der vorliegende Antrag nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 SGG statthaft. Danach kann das Gericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 15.02.2025 anordnen. Denn hier liegt ein Fall vor, in dem ein Widerspruch ausnahmsweise keine aufschiebende Wirkung hat. Dies folgt aus § 11 Abs. 4 Ziff. 1 AsylbLG. Die Antragsgegnerin hat mit dem angefochtenen Verwaltungsakt nämlich ihre Leistungsbewilligung mit Wirkung zum 01.03.2025 aufgehoben.

 

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Die Entscheidung, inwieweit die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs ausnahmsweise durch das Gericht angeordnet werden kann, richtet sich zunächst nach einer Abwägung des Aufschubinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an dem Sofortvollzug des angegriffenen Bescheides andererseits. Anzuordnen ist die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Anfechtungsklage in den Fällen des § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG jedenfalls dann, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides bestehen. Zu berücksichtigen ist auch, ob der Gesetzgeber grundsätzlich die sofortige Vollziehbarkeit einer Verwaltungsentscheidung angeordnet hat. Dann nimmt er damit in Kauf, dass eine angefochtene Entscheidung wirksam bleibt, obwohl über ihre Rechtmäßigkeit noch nicht abschließend entschieden worden ist. Diese Entscheidung des Gesetzgebers, den abstrakten öffentlichen Interessen den Vorrang einzuräumen, ist zu beachten. Von diesem Grundsatz ermöglicht § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG eine Ausnahme. Zumindest in den Fällen offensichtlicher Rechtswidrigkeit ist die Vollziehbarkeit auszusetzen, weil dann kein öffentliches Interesse an einer Vollziehung erkennbar ist. Unterbleiben muss die Aussetzung dagegen, wenn der eingelegte Rechtsbehelf offensichtlich aussichtslos ist.

 

In den übrigen Fällen, in denen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung nicht klar erkennbar ist, kommt es auf eine Interessenabwägung an. Je geringer die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs sind, desto mehr muss für den Betroffenen auf dem Spiel stehen, damit trotz bloßer Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Maßnahme entgegen der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers die aufschiebende Wirkung angeordnet werden kann (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ Keller/Schmidt, SGG Kommentar, 14. Auflage 2023, § 86b, Rn 12f, m.w.N.; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Januar 2019 - L 1 BA 76/18 B ER -, Rn. 16, juris, m.w.N.). Insbesondere beim Entzug existenzsichernder Leistungen ist jedoch zu beachten, dass wegen des grundrechtlichen Gewichts der Leistung im Rahmen der Abwägungsentscheidung die gesetzgeberische Wertung für die sofortige Vollziehbarkeit im Einzelfall zurücktreten kann, auch wenn keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Dann kann es nötig sein aufgrund einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, SGG, § 86b, Rn. 18, beck-online).

 

Gemessen hieran ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen. Am Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes besteht kein schützenswertes öffentliches Interesse. Die Verfügung darin ist voraussichtlich rechtswidrig ergangen und verletzte wohl subjektive Rechte des Antragstellers. Die Antragsgegnerin dürfte am 11.02.2025 unrechtmäßig die Aufhebung der vormaligen Leistungsbewilligung verfügt haben.

 

Ihren vorherigen Bewilligungsbescheid betreffend die “laufenden Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz“ (unbekannten Erlassdatums) durfte die Antragsgegnerin am 11.02.2025 wohl weder nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) noch gemäß § 45 SGB X mit Wirkung zum 01.03.2025 aufheben.

 

Bereits in formeller Hinsicht dürfte die Aufhebungsverfügung vom 11.02.2025 rechtswidrig gewesen sein. Die Antragsgegnerin hatte dem Antragsteller nach Lage der Akten wohl entgegen § 24 Abs. 1 SGB X keine Gelegenheit gegeben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Seine Anhörung war nicht nach § 24 Abs. 2 SGB X entbehrlich. Sie ist wohl auch nicht gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X nachgeholt worden und auch nicht unbeachtlich (vgl. § 42 Satz 2 SGB X).

 

Überdies war die Aufhebungsverfügung vom 11.02.2025 wohl in materieller Hinsicht rechtswidrig, weil die Tatbestandsvoraussetzungen keiner Rechtsgrundlage erfüllt sind.

 

§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB § 48 Abs. 1 Satz 1 bestimmt zwar, dass der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im Hinblick auf die am 11.02.2025 (mit zukünftiger Wirkung zum 01.03.2025) verfügte Aufhebung der Asylbewerberleistungsbewilligung dürfte aber keine wesentliche Änderung eingetreten sein. Insbesondere stellt wohl die Ablehnung des Asylantrags durch das BAMF vom 27.01.2025 aus zwei Rechtsgründen keine wesentliche Änderung im Sinne der Norm da.

 

Insofern ist der Antragsgegnerin zwar zuzugestehen, dass das BAMF sodann den Asylantrag als unzulässig erachtete und auch die Abschiebung des Antragstellers in den für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaat – hier: Griechenland – androhte. Eben deswegen wären die gesetzlichen Voraussetzungen des Gesetzeswortlauts von § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG grundsätzlich erfüllt. Die Norm bestimmt nämlich, dass Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG haben, wenn ihr Asylantrag durch eine Entscheidung des BAMF als unzulässig abgelehnt wurde, wenn nach der Feststellung des BAMF die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist und die Abschiebung angeordnet wurde.

 

Erstens hat aber im vorliegenden Fall des Antragstellers die Durchsetzung der Ausreisepflicht ausnahmsweise noch zu unterbleiben. Sie ist nämlich noch nicht vollziehbar. Die Abschiebungsandrohung des BAMF vom 27.01.2025 wirkt in seinem Einzelfall noch nicht. Gegen sie hat er zum Verwaltungsgericht Karlsruhe die Anfechtungsklage A 13 K 664/25 erhoben. Diese Klage schiebt die Wirkung der Abschiebungsandrohung des BAMF einstweilen auf. Eben dies hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe im Verfahren A 13 K 665/25 am 13.02.2025 angeordnet.

 

Ungeachtet dessen gilt generell in allen Fällen des Bezugs von Asylbewerberleistungen: Es ist selbst dann keine „wesentliche Änderung“ im Sinne des § 48 SGB X gegeben, wenn die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen des Wortlauts aus § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG erfüllt sind. Obwohl § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG zum 01.11.2024 in Kraft getreten ist, dürfen alle Asylbewerberleistungsempfänger darauf vertrauen, dass der gesetzeskräftige Leistungsausschluss weder von Asylbewerberleistungsbehörden noch von Sozialgerichten angewandt wird. Gerichte und Behörden sind gemäß Art. 20 Abs. 3 GG nicht nur an Gesetze, sondern zuvörderst an hierzu vorrangiges Europarecht und Verfassungsrecht gebunden. Gegen höherrangiges Recht verstößt § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG offenkundig, weil die Norm sowohl evident europarechtswidrig als auch evident verfassungswidrig ist.

 

§ 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG verletzt voraussichtlich die europarechtlichen Regelungen über Mindeststandards der Versorgung während des Asylverfahrens aus Art. 17 bis 20 der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (EURL 2013/33). Diese Mindeststandards sind in den sog. Dublin-III-Fällen anwendbar, solange – wie hier – noch keine endgültige Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergangen ist (vgl. EuGH v. 27.09.2012 - C-179/11 - juris Rn. 43 - Cimade und GISTI; EuGH v. 14.01.2021 - C-322/19 - juris Rn. 61 ff., 67; krit. dazu Wittmann, Ausschuss-Drs. 20(4)493 A neu, S. 76).

 

Die Mindeststandards dürften gemäß Art. 20 EURL 2013/33 der Aufnahme-Richtlinie zwar eingeschränkt werden. Allerdings liegt hier keiner der abschließend aufgeführten Ausnahmetatbestände vor. Es ist nämlich nicht ersichtlich, dass der Antragsteller gegen Vorschriften der Unterbringungszentren, gegen räumliche Beschränkungen oder Melde- und Auskunftspflichten verstoßen oder nicht rechtzeitig Antrag auf internationalen Schutz gestellt oder Vermögen verschwiegen oder Gewalt verübt hätte. Überdies hätte die Unterschreitung des europarechtlichen Mindeststandards eine – im vorliegenden Fall des Antragstellers fehlende – individuell zu begründende Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sowie die Gewährleistung des Zugangs zu medizinischer Versorgung und eine menschenrechtliche Mindestversorgung nach Art. 20 Abs. 5 erfordert (vgl. Wittmann, Ausschuss-Drs. 20(4)493 A neu, S. 75; Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 1 AsylbLG (Stand: 23.12.2024), Rn. 62.1).

 

§ 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG verletzt voraussichtlich ferner das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Bei § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG handelt es sich um einen vollständigen Leistungsausschluss, der durch das Vorenthalten einer materiellen Existenzgrundlage Einreiseanreize vermeiden und zur Ausreise aus Deutschland motivieren soll. Als solcher ist der Leistungsausschluss erst recht verfassungswidrig. Denn selbst weniger schwerwiegende Maßnahmen in der Form bloßer Leistungsabsenkungen dürfen nicht mit migrationspolitischen Erwägungen gerechtfertigt werden (Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 1 AsylbLG (Stand: 23.12.2024), Rn. 55).

 

Indes ist ein vollständiger Leistungsausschluss für Personen, die sich tatsächlich in Deutschland aufhalten, gerade nicht zu vereinbaren mit der temporären Reichweite des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Dem sog. Aktualitätsgrundsatz (bzw. „Gegenwärtigkeitsprinzip“) zufolge ist die menschenwürdige Existenz einschließlich des soziokulturellen Minimums ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland bis zu deren Ende zu sichern. Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder -perspektive rechtfertigt es gerade nicht, den Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken (Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 1 AsylbLG (Stand: 23.12.2024), Rn. 54 ff.).

 

Eine vom allgemeinen Existenzsicherungsrecht abweichende Bedarfsbemessung dürfte nur erfolgen, wenn wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden könnten. Derartige Erkenntnisse liegen indes nicht vor (Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 1 AsylbLG (Stand: 23.12.2024), Rn. 54 ff.).

 

Bei dem neuen Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG für sog. Dublin-III-Fälle, in denen das BAMF den Asylantrag wegen der vorrangigen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylG ablehnt, kommt erschwerend hinzu, dass der betroffene Personenkreis nicht innerhalb von zwei Wochen nach Ablehnung des Asylantrages freiwillig ausreisen kann (Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 1 AsylbLG (Stand: 23.12.2024), Rn. 54 ff.).

 

Dies zeigt sich auch im vorliegenden Fall. Denn das nach § 1 Abs. 4 Satz 7 AsylbLG mögliche Darlehen für die Kosten der Ausreise ist dem Eilantragsteller nach Lage der Akten noch nicht bewilligt worden, sodass er die Flugkosten nicht aufbringen könnte, zumal sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch nicht feststellen lässt, ob der Antragsteller tatsächlich legal nach Griechenland einreisen dürfte, was lebenspraktisch mehr erfordert als die abstrakte Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für ein Asylverfahren nach der Dublin-III-VO.

 

Nach alldem ist § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG aus vorrangigen Rechtsgründen generell untauglich, eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu begründen. Eben hierauf gestützte Aufhebungsentscheidungen der Asylbewerberleistungsverwaltung sind stets rechtswidrig. In Fällen wie diesen kommt auch nicht § 45 SGB X zur Anwendung, da es bereits an der nach § 45 Abs. 1 SGB X erforderlichen Ausübung des Rücknahmeermessens fehlt (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 1. Juli 2019 – L 7 AY 1783/19 ER-B –, Rn. 11, juris).

 

Also obsiegt der Antragsteller vollumfänglich, soweit er im Verfahren S 12 AY 379/25 ER die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs begehrt.

 

 

b) Soweit der fachkundig vertretene Antragsteller daneben hilfsweise beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung für den Zeitraum ab 01.03.2025 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach dem AsylbLG ohne Einschränkung zu gewähren, hat das Gericht hierüber nicht zu entscheiden.

 

Der Eilantrag ist insoweit nach §§ 106 Abs. 1, 123 SGG nur für den Fall des Unterliegens mit dem Eilantrag wegen der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 15.02.2025 gestellt worden. Dieser Fall ist hier nicht gegeben, da der Antragsteller bereits mit seinem vorrangig gestellten Antrag obsiegt (s.o.).

 

Weil aber die Antragsgegnerin ihre Verwaltungsvorgänge in prozessrechtswidriger Weise nicht vorgelegt und deswegen das angerufene Sozialgericht darüber im Ungewissen gelassen hat, ob ihre vorangegangene (und mit künftiger Wirkung zum 01.03.2025 aufgehobene) Leistungsbewilligung auf Dauer erfolgt war, sieht sich das Gericht noch zu vorsorglichen Hinweisen veranlasst, die bedeutsam wären in dem – in richterlicher Kenntnis der Bewilligungspraxis der Antragsgegnerin unwahrscheinlichen – Fall einer vorherigen Befristung der am 11.02.2025 aufgehobenen Leistungsbewilligung (bis zum 28.02.2025 oder bis zu einem anderen Zeitpunkt).

 

Ggfs. wäre die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG durch das Gericht zu verpflichten, dem Antragsteller ab dem Ablauf der Leistungsbewilligung (am 28.02.2025) vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG in gesetzlicher Höhe bis zu seiner Ausreise aus dem Bundesgebiet zu gewähren.

 

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zum Einen das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs. Dieser bezieht sich auf den materiellen Anspruch, für den der vorläufige Rechtsschutz begehrt wird und ist gegeben, wenn bei der im Verfahren nach § 86b Abs. 2 SGG gebotenen summarischen Prüfung ein Erfolg in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller, SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 27 ff.). Weitere Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Dieser liegt vor, wenn die erstrebte vorläufige Regelung besonders dringlich ist, wenn es also dem Antragsteller nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller, SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 27a.). Die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

 

Diese Voraussetzungen lägen im Fall des Antragstellers ab dem hypothetischen Ablauf des bisherigen Leistungsbewilligungszeitraums vor. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund wären gegeben. Der Antragsteller wäre dem Grunde nach berechtigt zum Bezug von Asylbewerberleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Dies ist zwischen den Beteiligten unstrittig. Auch das angerufene Gericht hätte insofern keine Bedenken. Der Leistungsanspruch des Antragstellers wäre nach Lage der Akten auch weder der Höhe nach beschränkt noch ganz ausgeschlossen. Insbesondere folgte ein solcher Leistungsausschluss nicht aus § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG. Denn der Leistungsausschluss aus § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG ist voraussichtlich weder mit dem Recht der Europäischen Union noch mit dem Grundgesetz vereinbar (s.o.). Dies haben die an höherrangiges Europa- und Verfassungsrecht gebundene Leistungsverwaltung und Gerichte vorrangig zu beachten gemäß Art. 20 Abs. 3 GG. Die Sache wäre auch eilbedürftig. Der Antragsteller könnte wegen der existenzsichernden Leistungen nämlich nicht das Ergebnis von Widerspruch (bzw. Klage) im Hauptsacheverfahren abwarten.

 

 

c) Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG und berücksichtigt das vollständige Obsiegens des Antragstellers.

 

 

Rechtskraft
Aus
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